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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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und schleimverkrustet. Es war bestürzend und sonderbar beunruhigend, ihn einen gesteiften Stehkragen und ein modisches Halstuch tragen zu sehen, frisch gewaschen und rasiert, die Nägel sorgfältig geschnitten, das schwarze Haar glänzend, die Wellen gezähmt und aus der markanten Stirn nach hinten gestrichen.
    Ich war nicht der Einzige, der diese bemerkenswerte Verwandlung zur Kenntnis nahm. Beim Servieren des Abendessens sah ich, wie Frauen ihm Blicke zuwarfen oder ihn anlächelten, während wir uns an unseren Tisch begaben. Dies war genauso verwirrend wie seine Verwandlung. Frauen waren fasziniert – nein, man könnte sogar sagen angezogen – von Pellinore Warthrop! Manche erröteten gar oder – noch empörender – versuchten mit ihm zu flirten! Flirten – mit dem Monstrumologen!
    Selbstverständlich ignorierte Warthrop, da er ja nun einmal Warthrop war, diese koketten Avancen, oder vielmehr schien er sie gar nicht wahrzunehmen, was ihn natürlich umso interessanter machte. Ich hatte immer gedacht, er sei mehr kalter Stein als Fleisch und Blut, und diese schüchternen Lächeln, diese flüchtigen Blicke, diese errötenden Wangen – ich wusste einfach nicht, was ich davon halten sollte.
    »Die Schlussfolgerung ist unvermeidlich. Nach drei Monaten muss er tot sein«, äußerte der Doktor unvermittelt, während wir das letzte Abendessen an Bord genossen, wobei sein Gesicht dem großen Fenster neben unserm Tisch zugewandt war. Die Nacht war hereingebrochen, und die Landschaft wurde von unseren Spiegelbildern verborgen; ich konnte nicht sagen, ob er über sein eigenes Gesicht auf der Scheibe hinaussah. »Eher eineBergung als eine Rettung, und selbst dafür besteht wenig Hoffnung, denn das Scheitern der Fachmänner garantiert praktisch unser eigenes.«
    »Wieso gehen wir dann überhaupt?«, fragte ich.
    Er drehte sich vom Fenster weg und starrte mich für einen langen, unbehaglichen Moment an.
    »Weil er mein Freund war.«
    Später an jenem Abend, als wir in unseren Etagenbetten lagen und die einlullende Bewegung des Zuges und das Schlaflied der Räder uns sacht in den Schlummer wiegte, ergriff er plötzlich das Wort, als wäre seit dem Beginn unserer Unterhaltung keine Zeit verstrichen.
    »Ich war ein Einzelkind wie du, Will Henry, aber in John Chanler fand ich jemanden, der einem Bruder so nahe wie nur irgend möglich kam. Sechs Jahre lang lebten wir zusammen unter der Pflegschaft von Helrungs, teilten dasselbe Zimmer, aßen dieselben Mahlzeiten, lasen dieselben Bücher – aber in nahezu jeder anderen Hinsicht waren wir das komplette Gegenteil. Während ich zurückhaltend und ein bisschen schwächlich war, war John extrovertiert und ganz der Athlet – ein vollendeter Boxer, mit dem ich einmal törichterweise einen Streit vom Zaun brach; er brach mir die Nase und die linke Wange, bevor Meister Abram uns trennte.
    Wir kamen auf unterschiedlichen Wegen zur Monstrumologie. Er liebte die Kurzweil daran, den Kitzel der Jagd, wohingegen es mich aus komplizierteren Gründen dazu hinzog und von denen du viele bereits kennst. Johns Vater war kein Wissenschaftler und ziemlich entsetzt, als sein Sohn um eine Lehre unter von Helrung nachsuchte. Die Chanlers sind eine der reichsten Familien an der Ostküste; sein Vater ist mit Präsidenten und Männern wie Vanderbilt, Morgan und Astor befreundet. Von John wurde erwartet, dass er in die Fußstapfen seines Vaters trat, und meines Wissens wurde ihm seine Aufsässigkeit nie vergeben. Ich weiß es nicht mit Gewissheit, aber ich glaube, sein Vater könnte ihn verstoßen haben. Nicht dass es John gekümmert hätte. Er schien sich ein Vergnügen daraus zu machen, sich über die Erwartungen anderer hinwegzusetzen.«
    Er verstummte. Nach einer Weile dachte ich, er müsse eingeschlafen sein, doch dann sprach er plötzlich wieder.
    »Er liebte Streiche, besonders auf meine Kosten. Es mag dich überraschen, dies zu hören, aber die Warthrops waren schon immer für ihren fehlenden Sinn für Humor bekannt; es ist eine Art Geburtsfehler. Zu seinen Lebzeiten habe ich meinen Vater nur einmal lachen gehört, und das aus Höflichkeit. Es ergötzte John, mein Bett heimlich so zu beziehen, dass ich nicht hineinschlüpfen konnte, oder meine Hand in warmes Wasser zu tauchen, wenn ich schlief. Einmal ließ er das Blut aus dem Kadaver eines tansanischen Ngoloko ab, den wir am nächsten Tag sezieren sollten, und stellte den Kübel oben auf die Tür, die in unser Zimmer führte. Na ja, du kannst dir

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