Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Gegensatz zu jedem anderen Organismus auf der Erde – und brauchen sich daher nicht zu reproduzieren?«
»Sie nehmen uns und machen uns zu einem von ihnen.«
»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, sie fräßen uns!«
»Na ja, wie das genau funktioniert, kann ich nicht sagen. Die Geschichten kommen aus den Wäldern: Ein Jäger oder ein Fallensteller, öfter noch ein Indianer, wird zum Wendigo.«
»Aha, dann ist er also wie der Vampir oder der Werwolf. Wir sind sowohl seine Nahrung als auch seine Nachkommenschaft.« Der Doktor nickte mit gespieltem Ernst. »Die Sache ist beinah unwiderleglich, nicht wahr? Viel wahrscheinlicher als die Alternative, dass der Wendigo eine Metapher für Hungersnot und das Tabu des Kannibalismus in solchen Zeiten ist oder ein Butzemann, mit dem Eltern ihren Kindern Angst machen, damit sie ihnen gehorchen.«
Ein paar Minuten lang sprach keiner. Das Feuer knisterte und knallte; Schatten tanzten und wirbelten um unser kleines Lager herum; der See schimmerte im Mondlicht, die Wellen leckten wollüstig am Ufer; und der Wald hallte vom Lied der Grillen und dem gelegentlichen Zerbrechen eines Zweiges unter dem Fuß irgendeines Waldwesens wider.
»Tja, Dr. Warthrop, fast tut es mir leid, dass ich nach derMonstrumologie gefragt habe«, sagte Hawk wehmütig. »Verdammt, Sie haben mir beinah den ganzen Spaß dran genommen!«
Die Männer warfen eine Münze, um die erste Wache auszulosen. Auch wenn die Zivilisation nur einen Tagesmarsch hinter uns lag, waren wir doch schon ein gutes Stück in Wolf- und Bärengebiet eingedrungen, und jemand musste das Feuer die ganze Nacht hindurch am Leben erhalten. Warthrop verlor – er würde als Letzter zum Schlafen kommen –, schien aber zufrieden mit dem Ausgang. Dies gäbe ihm, so sagte er, Zeit zum Nachdenken, eine Aussage, die mich reich an Ironie dünkte. Ich hatte den Eindruck, dass er ansonsten mit seiner Zeit wenig anfing.
Der stämmige Sergeant Hawk krabbelte ins Zelt und warf sich neben mir auf den Boden; unsere Unterkunft war so klein, dass seine Schulter sich an meiner rieb.
»Irgendwie ist dein Boss schon ein seltsamer Kerl, Will«, sagte er leise, damit Warthrop ihn nicht hörte. Ich konnte die Silhouette des Doktors durch die offene Zeltklappe sehen, wie er vor dem orangefarbenen Feuerschein kauerte, die Winchester an den Oberschenkel gelehnt. »Höflich, aber nicht besonders freundlich. Irgendwie kalt. Aber er muss ein gutes Herz haben, wenn er wegen seinem Freund den ganzen Weg hierherkommt.«
»Ich bin nicht sicher, ob es bei dem Ganzen nur um seinen Freund geht«, sagte ich.
»Nicht?«
»Er glaubt, dass Dr. Chanler tot ist.«
»Na ja, das denke ich auch, und deshalb haben wir ja auch die Suche abgebrochen. Aber es ist wie mit diesem Wendigo. Alles spricht dafür, dass dein Boss ihn nicht finden wird – und das wird nicht beweisen, dass er tot ist oder nicht.«
»Ich bin nicht sicher, ob es auch nur darum geht, ihn zu finden«, gestand ich.
»Ja worum zum Teufel geht’s denn dann?«
»Ich denke, es geht hauptsächlich um sie.«
»Um mich?«
»Um Mrs. Chanler.«
»Mrs. Chanler!« Sergeant Hawk flüsterte. »Was willst du damit – Oh. Oh! Ist es das, was – Na, haste Töne!« Er kicherte schläfrig. »Wohl doch nicht ganz so kalt, was?«
Er rollte sich auf die Seite, und binnen weniger Sekunden begannen die Zeltwände von der Macht seiner Schnarcher zu vibrieren. Ich lag lange Zeit schlaflos da, nicht so sehr aufgrund seines Schnarchens wach gehalten als vielmehr von der verwirrenden Leichtheit des Seins, dem Gefühl, ganz klein in einem unermesslichen, leeren Raum zu sein, weit weg von allem Vertrauten, Wind und Wellen einer unbekannten und gleichgültigen See preisgegeben. Durch halb geschlossene Augen beobachtete ich den Umriss meines Herrn draußen; er tröstete mich irgendwie. Ich schlief ein, indem ich mich an diesem unerwarteten Balsam festhielt, ihn in mich zog oder ihm gestattete, mich in ihn zu ziehen – die Vorstellung des Monstrumologen, der über mich wachte.
Das Unbehagen, eine merkwürdige Mischung aus Langeweile und Beklemmung, das ich während jener ersten Nacht in der Wildnis empfand – und welches umso bedrückender war nach der heftigen Vorfreude, die ich beim Anbruch der Reise verspürt hatte –, dauerte in den folgenden Tagen an. Denn so wie Stunde auf monotone Stunde folgte, nahm der Wald eine furchtbare Gleichheit an, brachte jede Wegbiegung mehr vom immer wieder selben, mit nur bedeutungslosen
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