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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Unterschieden. Zuweilen traten die Bäume unvermittelt auseinander, wie ein Vorhang, der zur Seite gerissen wurde, und dann stolperten wir aus der ewigen Düsternis des Waldes in den jähen Sonnenschein einer Lichtung. Gewaltige Felsbrocken reckten ihre Köpfe aus der Erde, steinerne Leviathane, die die Oberfläche des engen Tals durchbrachen und deren zerfurchte Gesichter stolz zottige Flechtenbärte zur Schau trugen.
    Wir überquerten ungezählte Bäche und Wasserläufe, manche zu breit, um darüberzuspringen; dann blieb uns keine andere Wahl, als ihr eisiges Wasser zu durchwaten. Wir kletterten über Auswaschungen und durch tiefe Schluchten, wo sich die Schatten selbst um die Mittagszeit dick über die Erde legten. Zerstörte Landschaften, die Hawk Brûlé nannte, erhoben sich, um uns entgegenzutreten, wo die verkohlten Skelette von silbernen Birken und Ahornen, Fichten und Hemlocktannen auf den Horizont zumarschierten, Opfer der Frühlingsbrände, die wochenlang getobt hatten und eine apokalyptische Aussicht erschaffen hatten, so weit das Auge reichte, wo der ruhelose Wind die zolltiefe Asche am Boden zu einem stickigen Nebel aufpeitschte. Inmitten dieser Öde blickte ich nach oben und sah hoch über uns eine schwarze Form vor dem nichtssagenden Himmel, ein Adler oder irgendein anderer großer Greifvogel, und einen grässlichen Moment lang sah ich uns durch seine Augen – jämmerlich kleine, gänzlich unbedeutende Nomaden, Eindringlinge in dieses leblose Land.
    Sergeant Hawk versuchte immer, den täglichen Marsch an irgendeiner offenen Stelle in der Wildnis zu beenden, aber oft überraschte uns der Sonnenuntergang mitten im Bauch des Waldes und nötigte uns, in einer Finsternis das Lager aufzuschlagen, die so tief wie die eines Grabes war und in der man ohne das Lagerfeuer die Hand nicht vor den Augen hätte sehen können.
    Das gutmütige Naturell unseres Führers trug ebenfalls dazu bei, dass das aufdringliche Dunkel leichter zu ertragen war. Er erzählte Geschichten und Witze – manche, wenn nicht die meisten, ziemlich unzüchtig – und, da er eine ganz passable Stimme besaß, sang die alten Lieder der französischen Voyageurs, wobei er das Kinn leicht neigte, als wolle er sein Lied einem namenlosen Waldgott darbringen:
    J’ai fait une maîtresse y a pas longtemps.
    J’irai la voir dimanche, ah oui, j’irai!
    »Kennen Sie das, Doktor?«, zog er meinen Herrn auf. » ›Le Cœur de Ma Bien-aimée ‹ – › Das Herz meiner heiß Geliebten ‹? ›Eine sanfte Geliebte verzauberte mich, ’s ist noch nicht lang her …‹ Erinnert mich an ein Mädchen, das ich in Keewatin kannte. Im Moment fällt mir ihr Name nicht ein, aber bei Gott, ich stand verdammt kurz davor, sie zu heiraten! Sind Sie verheiratet, Doktor?«
    »Nein.«
    »Nie gewesen?«
    »Nie«, antwortete der Monstrumologe.
    »Aber beinah bereit dazu, oder?«
    »Nie.«
    »Was denn, mögen Sie keine Frauen?«, stichelte er, wobei er mir zuzwinkerte.
    Der Doktor schürzte verdrießlich die Lippen. »Als Mann der Wissenschaft habe ich oft gedacht, dass, um der Genauigkeit willen, sie als eine völlig andere Spezies klassifiziert werden sollten – Homo enigma vielleicht, oder Homo mortalis .«
    »Tja, ich weiß nicht viel über Ihre Wissenschaft, Dr. Warthrop. Ich schätze, ein Monsterjäger betrachtet die Dinge ein bisschen anders als die meisten, hat das Auge immer auf das Dunkle und Hässliche gerichtet, ist aber dem Hellen und Schönen gegenüber umso empfänglicher, wenn es dann daherkommt, das denk ich jedenfalls. Ich zweifle aber nicht an Ihren Worten.«
    Er sang leise: » La demande à m’amie je lui ferai …«
    Mit einem Knurren stand Warthrop auf. »Bitte, würden Sie mit diesem infernalischen Gesang aufhören!«
    Er stapfte fort ins dichte Unterholz und blieb stehen, wo das Licht des Lagerfeuers dem Dunkel des Waldes begegnete. Seine hagere Gestalt schien sich zu winden, als befände er sich in der überhitzten Luft über dem Feuer.
    Hawk war unbeeindruckt. Er stieß mir in die Seite und zeigte auf den Doktor. »Kommt mir vor, als wär er einer von der Sorte, die hassen, was sie lieben, Will«, meinte er. »Und andersrum!«
    »Das habe ich gehört, Sergeant!«, blaffte Warthrop über die Schulter.
    »Ich habe mit Ihrem unentbehrlichen Diener gesprochen, Doktor!«, rief Hawk vergnügt zurück.
    Der Doktor senkte den Kopf ein bisschen. Er hielt die Hand hoch. Seine Fingerspitzen zuckten; ansonsten war er bewegungslos, so starr wie ein in den

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