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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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zugestimmt.
    Ich hätte es nie mehr verlassen, aber am folgenden Morgen begann als Allererstes das Packen. Am Nachmittag gab es Botengänge zu erledigen – zum Postamt, zum Büro der Western Union, zur Wäscherei, zum Schneider und als Letztes, aber bestimmt nicht Unwichtigstes zum Bäcker, um einen Korb Himbeerteilchen zu holen. Der Doktor, so schien es, hatte am meisten seine Teilchen vermisst. Er arbeitete bis weit in den Abend hinein und übte seine Rede ein, wobei er – schließlich war er Pellinore Warthrop – vom absolut schlimmsten Fall ausging. Ungeachtet der Ermangelung eines tatsächlichen biologischen Exemplars würde von Helrung weiter für die Aufnahme von Lepto lurconis und seinen unzähligen mythologischen Vettern in den monstrumologischen Kanon eintreten.
    In der Nacht vor unserer Abreise nach New York geschahetwas ausgesprochen Merkwürdiges – praktisch das Merkwürdigste, was bis zu diesem Punkt zwischen uns geschehen war. Ich war gerade dabei einzuschlafen, als sein Kopf sich plötzlich durch die kleine Klapptür zu meiner Dachkammer schob und er sich, mit uncharakteristisch betrübter Miene, leise erkundigte, ob ich wach sei.
    »Ja, Sir«, antwortete ich. Ich setzte mich auf und zündete die Lampe neben dem Bett an. In deren Schein schien das Gesicht des Doktors vor dem Hintergrund tiefster Dunkelheit zu schweben. Ich war ein wenig verunsichert, um ehrlich zu sein, denn während unseres ganzen Zusammenlebens war er noch nie mitten in der Nacht an mein Bett gekommen. Immer war es ich, der an seins gerufen wurde.
    »Du kannst also auch nicht schlafen?« Er setzte sich ans Fußende des Betts. Er blickte sich in dem winzigen Raum um, als hätte er, der in diesem Haus aufgewachsen war, ihn noch nie zuvor gesehen. »Weißt du, du könntest dir überlegen, in eins der Schlafzimmer im ersten Stock zu ziehen, Will Henry.«
    »Es gefällt mir hier oben, Sir.«
    »Tatsächlich? Wieso?«
    »Ich weiß nicht. Ich denke, ich fühle mich hier … sicherer.«
    »Sicherer? Sicherer vor was?«
    Er sah weg. Er schien nicht auf eine Antwort auf seine Frage zu warten, doch auf irgendetwas schien er zu warten. Was war es? Warum war er gekommen? Das lag nicht in seinem Wesen.
    »Als Kind habe ich viele Stunden in diesem Raum verbracht«, brach er behutsam das Schweigen. »Unsere Vergangenheit diktiert unsere Wahrnehmungen, Will Henry. Ich könnte diesen Raum nie mit dem Gefühl von Sicherheit in Verbindung bringen.«
    »Weshalb nicht?«
    »Ich war ziemlich kränklich als Kind – einer der Gründe, wenngleich nicht der Hauptgrund, weshalb mein Vater mich fortgeschickt hat. ›Um dich ein bisschen abzuhärten‹, waren seine Worte. Jedes Mal, wenn ich krank wurde, und das geschahhäufig, wurde ich in diese Mansarde verbannt, damit sich nicht der ganze Haushalt bei mir ansteckte …« Er starrte durch das kleine Fenster über meinem Kopf auf die glänzenden Sterne dahinter.
    »Meine Mutter starb, als ich zehn war; ich glaube, das habe ich dir schon erzählt. Schwindsucht. Mein Vater, auch wenn er es nie offen gesagt hat, gab mir die Schuld daran. Von der Stunde ihres Todes an waren meine Tage in diesem Haus gezählt. Er zog sich von mir zurück, und ich wurde, obwohl wir dieselben Zimmer teilten und am selben Tisch unsere Mahlzeiten einnahmen, aufgegeben – wie auch er sich aufgab –, beide eingesponnen im Kokon unseres Kummers. Er stürzte sich in die Arbeit und verfrachtete mich auf ein Schiff nach England. Fast fünfzehn Jahre sollte ich ihn nicht mehr sehen.«
    Ich versuchte mir etwas einfallen zu lassen, um ihn zu trösten. »Das tut mir leid, Sir«, war das Beste, was ich zuwege brachte.
    Er zog die Stirn kraus. »Ich bin nicht auf der Suche nach Mitleid, Will Henry. Ich habe mich lediglich darüber ausgelassen, wie unsere Wahrnehmung von unserer individuellen Erfahrung geformt und somit die gesamte Vorstellung objektiver Wahrheit infrage gestellt wird. Wir können unseren Wahrnehmungen nicht trauen – das ist mein Standpunkt.«
    Unvermittelt brach er die Vorlesung ab und sah wieder weg, indem er, allem Anschein nach, die nackte Wand gegenüber dem Bett betrachtete.
    »Zahllose Tage verbrachte ich hier oben, geschüttelt von Fieber und Husten, während ich unten auf der Straße das Lachen der Nachbarkinder hören konnte, deren Freude eine Grausamkeit war, die ich kaum ertragen konnte.«
    Er schüttelte heftig den Kopf, als wollte er sich von der Erinnerung befreien.
    »Das andere Problem mit unseren

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