Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
befassen.«
»Du weißt, wer an alldem die Schuld trägt, nicht wahr? Dieser verdammte Irländer Stokely.«
»Stokely? Wer ist das?«
»Oder Stockman … Stickler … Stoker … Stocker? Ach, ich weiß auch nicht, was los ist; hab wohl Moos auf dem Hirn oder so was. Sein Vorname ist Abraham, aber darunter kennt ihn keiner.«
»Ich habe den Namen nie zuvor gehört – oder eine Variante davon. Ist er ein Monstrumologe?«
»Gütiger Gott, nein! Er ist beim Theater. Dem Theater, Pellinore! Hat den alten Mann durch seinen Mäzen kennengelernt, diesen britischen Schauspieler – Harold Lerner – heißt er so?«
Warthrop schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, John.«
»Er ist sehr berühmt. Ist von der Königin zum Ritter geschlagen worden und alles. Letztes Jahr auf einer Tournee hier drüben und … Henry! Das ist sein Vorname! Sir Henry –«
»Irving?«
»Das ist es! Sir Henry Irving. Stickman ist sein Privatsekretär oder so was Ähnliches. Sir Henry hat ihn mit von Helrung bekannt gemacht, und seitdem halten die beiden zusammen wie Feuer und Schwefel.«
»Pech«, sagte der Doktor. »Die Redewendung heißt ›Pech und Schwefel‹.«
»Ja, ich weiß.« Chanlers Miene verfinsterte sich. »Ich habe mich versprochen, Professor. Aber vielen Dank, dass du michberichtigt hast.« Er sah mich an. »Bei dir macht er es auch; du brauchst es mir nicht zu sagen.«
»Dann hat also dieser Privatsekretär Sir Henrys von Helrung von der Existenz des Wendigo überzeugt?« Warthrop schien seine Zweifel zu haben.
»Habe ich das gesagt? Du hörst mir nicht zu. Ein eitler Mann hat keinen Platz in seinem Kopf für die Gedanken anderer – vergiss das nicht, kleiner Bill! Nein, ich denke nicht, dass Stockman einen Wendigo von einem Waliser unterscheiden kann – aber er ist regelrecht besessen von allem Monstrumologischen – will sogar ein Buch darüber schreiben!«
Die Augenbraue des Doktors hob sich. »Ein Buch?«
»Er ist auch ein aufstrebender Romancier. Fixiert aufs Okkulte, einheimischen Aberglauben, solche Sachen.«
»Wovon nichts irgendetwas mit Monstrumologie zu tun hat.«
»Genau das hab ich dem alten Mann auch gesagt! Aber er lässt allmählich nach; du weißt ja, dass er in den letzten paar Jahren Fehler gemacht hat. Und dieser Stroker will ihn nicht in Frieden lassen. Ist inzwischen wieder zurück in England und schreibt Brief um Brief, schickt von Helrung, was er ›Augenzeugenberichte‹ nennt, Auszüge aus persönlichen Tagebüchern und dergleichen, von denen von Helrung mir einige gezeigt hat. Ich hab ihm gesagt: ›Man kann diesem Mann nicht trauen. Er ist beim Theater ! Er ist ein Schriftsteller ! Er denkt sich das aus.‹ Na ja, der alte Mann will nicht hören. Geht hin und verfasst diese verdammte Abhandlung an den Kongress und verlangt von mir, hier hochzufahren – weil der Beweis des einen der Existenz des anderen Glaubwürdigkeit verleiht.«
»Des anderen«, echote der Doktor.
»Nosferatu. Der Vampir. Das Lieblingsprojekt dieses verdammten Irländers.«
»Also schickt Meister Abram dich aus, sein nordamerikanisches Äquivalent zu fangen«, sagte Warthrop. »Eine ausgesprochene Verrücktheit, John. Warum hast du zugestimmt?«
Chanler wandte den Blick ab. Einen Moment lang blieb er die Antwort schuldig. Als er sie gab, geschah es so leise, dass ich ihn kaum hören konnte.
»Das geht dich nichts an.«
»Du hättest ihm einen Korb geben können, ohne ihn zu verletzen.«
Der knollenförmige Kopf schnellte in seine Richtung; im spindeldürren Hals traten die Adern hervor; John Chanlers Augen brannten vor Zorn.
»Halte du mir keine Moralpredigten von wegen verletzen , Pellinore Warthrop! Du hast doch keine Konzeption von dem Wort! Was haben dich seine Gefühle je gekümmert – oder die von irgendwem? Wann hast du jemals eine Träne für einen anderen Menschen vergossen? Ich fordere dich auf, einen einzigen Moment in deinem erbärmlichen Leben zu nennen, wo du dich auch nur einen Pfifferling um irgendwen außer dich selbst geschert hast!«
»Das sollte nicht nötig sein«, erwiderte mein Herr gelassen. Dieser vehemente Gefühlsausbruch schien ihn nicht aus der Fassung zu bringen. »Am allerwenigsten dir gegenüber, John.«
»Ah, das ! Was bist du für ein Heuchler, Warthrop! Du musst ein Heuchler sein; für eine andere Erklärung bist du zu intelligent. Dich in diesen Fluss zu stürzen war der ultimative Akt der Eitelkeit und Ichbezogenheit. ›Wehe mir, dem armen, tragischen
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