Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Wahrnehmungen«, fuhr er schließlich in jenem quälend trocknen Vortragston fort, dessen er sich mir gegenüber oft befleißigte, »ist unsere Neigung, sie auf andere zu projizieren. Dieser Raum hat unangenehme Konnotationen für mich, und deshalb führe ich das Gefühl auf den Raum selbst zurück und bin verwundert, dass du nicht genauso empfindest.«
»Ja, Sir«, sagte ich.
»Was habe ich dir über das ständige ›Ja, Sir‹ erzählt, Will Henry? Es ist speichelleckerisch und erniedrigend für uns beide.«
»Ja, Sir«, antwortete ich frech.
»Ich habe mir einige Gedanken gemacht über unser …« Er suchte nach dem besten Wort, um es zu beschreiben. »Arrangement, Will Henry. Du bist jetzt seit fast zwei Jahren bei mir, und natürlich tendierten deine Dienste im Großen und Ganzen dazu, eher unentbehrlich zu sein als nicht; dennoch ist dein Fall insofern ungewöhnlich, als du als Folge des vorzeitigen Ablebens deiner Eltern hier bist, nicht aufgrund irgendeines Verlangens deinerseits – oder meinerseits, ganz ehrlich. Unglückliche Umstände zwangen uns zusammen, aber das bedeutet nicht, dass wir völlig hilflos sind. Als Wissenschaftler gebe ich nicht viel auf Willensfreiheit, aber ich verschreibe mich auch nicht irgendeinem albernen Aberglauben über die Vorherbestimmung des Schicksals. Meine Wahrnehmung, dass du mir unentbehrlich gewesen bist, mag völlig zutreffend sein. Daraus folgt jedoch nicht, dass du dieselbe Wahrnehmung teilst, wenn es um mich geht.«
Er hielt inne in der Erwartung, meine Gedanken zu der Angelegenheit zu hören. Als ich nicht antwortete, zuckte er die Schultern und sagte: »Du bist fast dreizehn, in einigen Kulturen das Alter der Volljährigkeit.« Er räusperte sich. »Und du hast geringfügige Bereitwilligkeit zu klarem Denken an den Tag gelegt – wenigstens sporadisch«, fügte er hinzu. Es war ein besonderes Talent des Monstrumologen, die Fähigkeit, im selben Atemzug zu loben und herabzusetzen. »Vollkommen dazu imstande, Entscheidungen zu treffen.«
»Sie schicken mich fort!« Mein Herz begann zu rasen. »Sie wollen mich nicht mehr hier haben!«
»Habe ich das gesagt? Wohin schweifst du ab, Will Henry? In welchen freundlichen Auen tollst du herum, während ich rede? Ich sagte, du bist nicht völlig hilflos. Du kannst eine Wahl treffen und, was noch wichtiger ist, ich werde diese Wahl respektieren. Ich bin kein Narr. Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass es schwierig sein kann, mit mir zu leben.«
Er zögerte, als wartete er auf ein Widerwort. Als keines kam, sprach er hastig und verlegen weiter. »Ich habe gewisse Eigenarten. Einige Unzulänglichkeiten in menschlichen … in Bezug auf … Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich vielleicht die Art von Mensch bin, der am besten allein lebt.« Er runzelte die Stirn. »Was ist das? Sind das Tränen?«
»Nein, Sir.«
»Verschlimmere die Angelegenheit nicht durch Lügen, Will Henry!«
»Nein, Sir.«
»Und dann ist da noch die Sache meiner Profession. Es ist ein gefährlicher Beruf, wofür unsere jüngsten Schwierigkeiten in Rat Portage ein treffliches Beispiel abgeben. Ich bin sicher, dass es dir schon in den Sinn gekommen ist, dass der Umgang mit einem Monstrumologen gefährlich für die Gesundheit sein kann.«
Ich berührte die immer noch empfindliche Wunde an meiner Brust.
»Ich habe nicht die Absicht, dich einfach auf die Straße zu setzen, falls es das ist, was dir Sorgen bereitet«, fuhr er fort. »Ich würde einen guten Platz für dich suchen.«
»Mein Platz ist hier. Bei Ihnen, Sir.«
»Deine Ergebenheit schmeichelt mir, Will Henry, aber –«
»Wenn ich ginge, wie würden Sie zurechtkommen? Es gibt keinen, der –«
Er fuchtelte ungeduldig mit der Hand herum. »Ich kann jederzeit einen Koch und ein Dienstmädchen einstellen, Will Henry, und du weißt, dass es jede Woche Bewerbungen gibt, bei mir in die Lehre zu gehen, von ernsthaften Schülern, die sich tatsächlich für das Gewerbe interessieren.«
Diese Worte schmerzten. Ich senkte den Kopf und sagte nichts.
Er schnaubte leise. »Wie wahr ist es doch, dass Ehrlichkeit sich selbst Lohn ist! Meistens sogar der einzige Lohn! Wir sollten ehrlich zueinander sein, Will Henry. Deine Beweggründe, hier zu bleiben, sind nicht lauterer als meine, es dir zu erlauben.«
»Bitte, Sir, ich will bleiben!«
Mehrere lange, unbehagliche Momente blickte er mich aufmerksam an. War das sein Spiel, fragte ich mich? Die Tiefe meiner Bindung an ihn
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