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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Pellinore!‹ Jämmerlich! Ich wünschte, du wärst ertrunken!«
    Der Doktor weigerte sich, sich ködern zu lassen. »Du hast ein entsetzliches Martyrium durchlebt«, sagte er sanft. »Ich verstehe, dass du nicht du selbst bist, aber ich bete darum, dass du mit der Zeit erkennst, dass deine Wut fehlgerichtet ist, John. Ich bin nicht derjenige, der dich hierhergeschickt hat; ich bin der, der dich herausgeholt hat.«
    Ich dachte daran, wie er auf den gefrorenen Boden gestürzt war, Chanler in den Armen, und an den wilden Blick in seinen Augen, als Hawk versuchte, ihm mit seiner Last zu helfen – der Revolver nur wenige Zoll von Hawks Gesicht –, und an seinenleisen zerrissenen Schrei, so bemitleidenswert in der unversöhnlichen Einsamkeit: Niemand berührt ihn außer mir!
    »Ein und derselbe«, flüsterte sein Freund kryptisch. »Ein und derselbe.«
    Bevor Warthrop nach der Bedeutung dieser Bemerkung fragen konnte, klopfte es an der Tür. Der Doktor versteifte sich bei dem Geräusch und schloss kurz die Augen, wobei er zu sich flüsterte: »Wir sind zu lange geblieben.«
    Muriel Chanler betrat das Zimmer, erblickte zuerst Warthrop und sagte zu ihm: »Wo ist John?«
    Dann sah sie ihn, zusammengekauert in dem kleinen Stuhl, ein Mann, der doppelt so alt wie bei ihrer letzten Begegnung zu sein schien, blass und verschrumpelt, geschunden von der Wildnis und dem exorbitanten Preis des Verlangens. Unwillkürlich stieß sie einen Laut des Erschreckens aus; in ihren Augen stiegen Tränen auf.
    Chanler versuchte aufzustehen, schaffte es nicht, versuchte es erneut. Unsicher schwankend stand er auf den Füßen. Er wirkte größer, als ich ihn in Erinnerung hatte.
    »Ich bin hier«, krächzte er.
    Sie eilte auf ihn zu, wurde langsamer, blieb stehen. Zärtlich berührte sie seine Wange. Der Moment war herzzerreißend und äußerst privat. Ich schaute weg – zum Autor des Stückes hin, der das Unerträgliche ertragen hatte, damit er diese Szene zur Aufführung bringen konnte – die Frau, die er liebte, in den Armen eines anderen Mannes.
    »John?«, fragte sie, als könne sie es noch nicht ganz glauben.
    »Ja«, log er. »Ich bin es.«

FÜNFZEHN
    »Wir sollten ehrlich zueinander sein«

    Wir begleiteten sie zum Bahnhof. Als der Schlafwagenschaffner ihrem Mann half, ihren privaten Waggon zu besteigen, legte Muriel ihre Hand auf den Arm des Doktors.
    »Danke«, sagte sie.
    Vorsichtig zog er den Arm weg. »Es war für John«, sagte er.
    »Du hast geglaubt, er wäre tot.«
    »Ja. Du hattest recht und ich unrecht, Muriel. Sorge dafür, dass man sich um ihn kümmert; er ist noch weit davon entfernt, genesen zu sein.«
    »Selbstverständlich werde ich das.« Ihre Augen blitzten. »Was seine Genesung betrifft, bin ich voll Hoffnung.«
    Sie sagte mir auf Wiedersehen. »Ich habe mein Versprechen gehalten, Will.«
    »Versprechen, Ma’am?«
    »Ich habe für dich gebetet.« Sie warf einen Blick auf den Doktor. »Die Hälfte davon wurde erhört, mindestens – du bist nicht tot.«
    »Noch nicht«, sagte Warthrop. »Lass den Dingen Zeit.«
    Ich war mir nicht sicher, aber es schien, als unterdrückte sie ein Lächeln.
    »Werde ich dich in New York sehen?«, fragte sie ihn.
    »Ich werde in New York sein«, sagte er.
    Jetzt lachte sie wirklich, und es war wie Regen nach einer langen, trockenen Saison.
    Die Pfeife der Lokomotive schrillte. Schwarzer Rauch quoll aus dem Schornstein.
    »Dein Zug fährt ab«, machte der Monstrumologe sie aufmerksam.
    Wir blieben auf dem leeren Bahnsteig, bis der Zug schon eine Weile außer Sicht war. Die ersten Sterne erschienen. Ein Seetaucher protestierte mit traurigen Schreien gegen das Schwinden des Lichts. Der Einbruch der Dunkelheit ließ mich mehr zittern als die Kälte. Obwohl Meilen davon entfernt, war ich immer noch sehr nah an jener Stelle, wo ein Mann entzweigebrochen unter der gefrorenen Erde lag.
    »Wann werden wir nach Hause fahren, Sir?«, fragte ich.
    »Morgen«, antwortete er.
    Noch nie war ich so froh gewesen, das alte Haus in der Harrington Lane zu sehen. Ich sprang geradezu aus unserem Hansom, als wir anhielten, und niederzuknien, um die Fußmatte zu küssen, wäre nicht unpassend zu meiner Freude gewesen, wieder hier zu stehen. Es schien nichts weniger als ein Wunder zu sein. Wie ich dieses Haus gehasst hatte – und wie ich jetzt jeden einzelnen knarrenden alten Zoll davon liebte! Nichts lässt uns etwas mehr lieben als sein Verlust – ich glaube, der Monstrumologe hätte mir diesbezüglich

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