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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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indirekte Weise wahr wurde.« Er fuhr sich über die Barthaare am Kinn und betrachtete die Statue des heiligen Theodors mit dem getöteten Drachen oben auf der Granitsäule ganz in der Nähe.
    »Haben Sie es getan, Dr. Warthrop?«
    »Habe ich was getan?«
    »Mich auf die Welt geholt.«
    »Ich bin keine Hebamme, Will Henry. Und Arzt bin ich auch nicht. Ich weiß, wie man Lebewesen tötet, Lebewesen aufschneidet, Lebewesen konserviert. Wie kommst du auf den Gedanken, das würde mich qualifizieren, Leben in die Welt zu bringen?« Er sah mich dabei allerdings nicht an, und ich fand es sehr schwer, ihn anzusehen. Er schlug die Beine übereinander und legte die Hände aufs angehobene Knie, die feingliedrigen Finger verschränkt. Waren das die ersten Hände, die mich gehalten hatten? Waren das die Augen, die mich zuerst erblickten, und die Augen, die ich zuerst erblickte? Aus Gründen, die ich nicht in Worte fassen konnte, war dies ein schwindelerregender Gedanke.
    »Wieso haben Sie es mir nicht gesagt?«, fragte ich.
    »Es gehört nicht zu den Dingen, die in einer Unterhaltung auf natürliche Weise zur Sprache kommen«, antwortete er. »Wieso die betroffene Miene, Will Henry? Ich bin auch in diesem Hauszur Welt gekommen. Das bringt – soweit ich weiß – nicht gleich das Kainsmal mit sich.«
    * * *
    Wir verweilten bis Sonnenuntergang auf der piazzetta . Der Doktor trank vier Espressos, den letzten in einem einzigen Schluck, und als er aufstand, schien sein ganzer Körper in den Kleidern zu vibrieren. Ohne einen Blick zurück ging er davon und überließ es mir, nach besten Kräften in der wachsenden Menge Schritt zu halten, vorbei an der prächtigen Basilica di San Marco, dann einbiegen auf die Piazzetta dei Leoncini. Dort verlor ich ihn im Gedränge, dann erblickte ich ihn wieder, als er den Platz verließ und mit großen Schritten durch die Calle de Canonica auf den Kanal zuging.
    Vor einem offenen Eingang blieb er abrupt stehen und verharrte absolut regungslos, ein bemerkenswertes Bild: nach der Heftigkeit der Bewegung jetzt so unbewegt wie eine Statue in der samtenen Abenddämmerung. Ich hörte ihn murmeln: »Ich frage mich, ob … Wie lange ist es her?« Er sah auf seine Uhr, ließ sie zuklappen und bedeutete mir, ihm ins Innere zu folgen.
    Wir betraten einen schwach erleuchteten Raum mit niedriger Decke, der vollgestopft mit Holztischen war, die meisten davon unbesetzt, und in dessen rückwärtigem Teil sich eine kleine Bühne befand. Die Plattform war leer bis auf ein altes Klavier, das an die Wand geschoben war. Der Doktor setzte sich an einen Tisch dicht bei der Bühne, unter ein Tanzcaféplakat, das es irgendwie schaffte, sich am bröckelnden Gips der Wand festzuhalten. Ein bassetgesichtiger Mann mittleren Alters, der eine fleckige Schürze trug, fragte uns, was wir trinken wollten. Warthrop bestellte noch einen caffè , seinen fünften, woraufhin der cameriere entgegnete: »Kein caffè. Wein. Wein oder spritz. « Der Monstrumologe seufzte und bestellte einen spritz. Er sollte unberührt stehen bleiben; Warthrop trank keinen Alkohol. Erfragte unseren Kellner mit dem traurigen Gesicht, ob jemand namens Veronica Soranzo noch in dem Klub sänge. » Sì. Sie singt«, sagte er und verschwand durch den Eingang rechts von der Bühne.
    Der Doktor machte es sich auf seinem Stuhl bequem und lehnte den Kopf an die Wand. Er schloss die Augen.
    »Dr. Warthrop?«
    »Ja, Will Henry.«
    »Sollten wir jetzt nicht wieder zum Bahnhof zurückgehen?«
    »Ich warte.«
    »Sie warten?«
    »Auf eine alte Bekannte. Eigentlich auf drei alte Bekannte.«
    Er öffnete ein Auge, schloss es wieder. »Und der erste ist gerade gekommen.«
    Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und sah einen ungeschlachten Mann mit Hängeschultern den Eingang ausfüllen. Er trug einen zerknitterten Mantel, der viel zu schwer für das milde Wetter war, und einen ramponierten Filzhut. Es waren nicht seine Haare – der Hut verbarg die meisten davon –, sondern seine Augen, an denen ich ihn erkannte. Ich atmete scharf ein und blinzelte, und er war verschwunden.
    »Rurick!«, flüsterte ich. »Er ist uns hierher gefolgt?«
    »Er folgt uns schon, seit wir das Bahnhofsgebäude verlassen haben. Er und sein haarloser Kollege, der kleine Gospodin Plešec, haben mit uns ganz Venedig durchwandert; sie saßen heute Nachmittag auf den Stufen der Basilica di San Marco, während wir unsere Getränke in der piazzetta genossen.«
    »Was sollen wir tun?«
    Seine Augen

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