Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Wind nagte; dies war sein Zuhause, dies sein Erbbesitz … Und dann dreht der Knabe sich um. Er dreht sich um und erblickt Venedig, das singt in goldenem Lichte, und er ist hingerissen, denn seine Anmut ist umso herzzerreißender angesichts dessen, was er geerbt hat.
Der Monstrumologe schien jeden Seitenweg und jeden kleinen Kanal dieser schwimmenden Stadt zu kennen, mit jedem winzigen Geschäft und jedem Straßencafé vertraut zu sein. »Ich habe während meiner europäischen Phase ein oder zwei Sommer hier verbracht«, so drückte er sich aus. Vielleicht kehrte er zu seinen Tagen als aufstrebender Dichter zurück; es klang wie etwas, was ein Künstler von sich selbst sagen mochte: »meine europäische Phase«. In einem Café an der Piazzetta di San Marco in der Nähe der Lagune nahmen wir ein frühes Abendessen zu uns, eine willkommene Atempause, nachdem wir zwei Stunden ohne klare – wenigstens kam es mir so vor – Absicht oder Bestimmung im Sinn durch die Stadt gewandert waren. Der Doktor bestellte sich einen caffè und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um die milde Luft zu genießen und die schönen Frauen, die es so reichlich in Venedig zu geben schien und deren sorgloses Lachen zwischen der Libreria und der Zecca widerhallte wie das Wasser, das im Brunnen der Piazza sprudelte.
Er nippte an seinem Espresso und gestattete seinem Auge, verträumt über die gefällige Landschaft zu schweifen, und sein Blick war so träge wie die Wasser des Canalasso.
»Das ist das Problem mit Venedig«, sagte er. »Sobald man es einmal gesehen hat, kommt einem jeder andere Ort im Vergleich trüb und langweilig vor, sodass man ständig daran erinnert wird, wo man nicht ist.«
Sein Blick wurde von zwei hübschen jungen Damen angezogen, die Arm in Arm am Molo entlangspazierten, wo die Sonne funkelte und goldene Lichtblitze aufs blaue Wasser sprühte. »Dasselbe trifft auf so ungefähr alles andere Venezianische zu.«
Nachdenklich strich er sich über den neuen Backenbart. »Auch auf die Monstrumologie. Auf eine andere Weise. Du warst lange genug bei mir, Will Henry; du weißt bestimmt, was ich meine. Würde das Leben ohne sie nicht … nun ja, langweilig scheinen? Ich sage nicht, dass sie immer erfreulich oder auch nur angenehm für dich war, aber kannst du dir vorstellen, wie stumpfsinnig und unendlich grau das Leben wäre, wenn du sie aufgeben müsstest?«
»Ich habe es mir schon vorgestellt, Sir.«
Er blickte mich aufmerksam an. »Und?«
»Ich war … Ich hatte die Gelegenheit, zu …« Ich konnte ihn nicht ansehen. »Ich wohnte bei Dr. von Helrungs Nichte, während Sie weg waren – Mrs Bates –, und sie bot mir an, mich zu adoptieren …«
»Dich adoptieren!« Er wirkte höchst erstaunt. »Wozu?«
Mein Gesicht fühlte sich warm an. »Zu meinem Besten, denke ich.«
Er schnaubte verächtlich, sah meine verletzte Miene, stellte die Tasse ab und sagte: »Und du hast nein gesagt.«
»Mein Platz ist bei Ihnen, Dr. Warthrop.«
Er nickte. Was hatte dieses Nicken zu bedeuten? Stimmte er mir zu, dass mein Platz bei ihm war? Oder pflichtete er bloß meiner Entscheidung bei, ungeachtet seiner eigenen Meinung? Er sagte es nicht, und ich traute mich nicht zu fragen.
»Weißt du, ich war da«, sagte er. »In der Nacht, als du geboren wurdest. Deine Mutter wohnte vorübergehend in einem unserer Gästezimmer – eine Frage der Bequemlichkeit. Meiner Bequemlichkeit, meine ich. Ich hatte gerade ein frisches Exemplar bekommen und brauchte die Unterstützung deines Vaters bei der Sektion. Wir waren im Keller, als deine Mutter die Wehen bekam, deshalb hörten wir ihre Schreie erst, als wir einige Stunden später hochkamen. James stürmte nach oben, kam wieder herunter und zerrte mich dann an ihr Bett.«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Ich bin in der Harrington Lane geboren worden?«
»Ja. Deine Eltern haben es dir nie erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. Das war nichts, wonach ich sie gefragt hätte. »Und Sie haben mich auf die Welt geholt?«
»Habe ich das gesagt? Was habe ich gerade gesagt? Ich habe gesagt, ich wurde von deinem aufgeregten Vater an dein Bett gezerrt. Meiner Erinnerung nach waren die Worte deiner Mutter: ›Lass diesen Mann nicht in meine Nähe kommen!‹« Er kicherte. »Ich hatte den Eindruck, deine Mutter mochte mich nicht besonders.«
»Sie hat Vater gesagt, Ihre Arbeit würde ihn eines Tages umbringen.«
»Tatsächlich? Hm. Eine vorausahnende Bemerkung, auch wenn die Vorhersage auf
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