Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Richtungen. Da waren das mächtige Rumpeln der Schiffsmaschinen und das leise Singen der Kohlentrimmer unten und das Lachen der arbeitsscheuen Mannschaft, die oben faulenzte. Alles Somalier und keiner, der ein Wort Englisch sprach, mit Ausnahme von Awaale. Ihnen war nichts über unsere Mission erzählt worden, und sie schienen in keinster Weise neugierig. Sie waren dankbar für die Ruhepause von Piraten und neugierigen Zollbeamten; sie lachten und scherzten wie eine Gruppe von Schuljungen in den Ferien.
Es gab an Bord nur zwei Kabinen. Eine davon war natürlichdie des Kapitäns, und die andere gehörte Awaale, der sie frohen Sinnes für den Doktor aufgab; allerdings war darin nur Platz für einen.
»Du wirst bei mir und meiner Mannschaft schlafen«, teilte Awaale mir mit. »Das wird großartig! Wir werden Geschichten von unseren Abenteuern austauschen. Ich will wissen, was du schon von der Welt gesehen hast!«
Der Doktor nahm mich zur Seite und warnte mich: »Ich wäre sparsam beim Beschreiben der Teile, die ich schon gesehen habe, Will Henry. Manchmal sollte man die besten Geschichten lieber nicht erzählen.«
* * *
Die Mannschaftsquartiere, die sich in der Nähe des Kesselraums befanden, waren klein, laut, ständig heiß und deswegen während der Sommermonate fast immer verlassen; diejenigen, die keine Nachtwache hatten, schliefen auf Deck in einer Hängemattenreihe, die mittschiffs aufgehängt war. In unseren ersten zwei Nächten auf See bekam ich nicht viel Schlaf. Bei dem unablässigen Schwingen und Zurückschwingen der Hängematte unter mir und dem nackten Nachthimmel, der sich weigerte, still zu halten, über mir konnte ich mich nicht entspannen. Die Augen zuzumachen machte es nur schlimmer. Aber ab der dritten Nacht fing ich tatsächlich an, es angenehm zu finden, und schaukelte hin und her, während die warme, salzige Luft meine Wangen streichelte und die tanzenden Sterne vom tiefschwarzen Firmament herabsangen. Ich lauschte Awaale neben mir, der mit Seemannsgarn Schauermärchen spann, die so komplex wie ein Nidus ex magnificum waren.
Am dritten Abend sagte er zu mir: »Weißt du, weshalb Kapitän Julius mich als seinen Offizier angeheuert hat? Weil ich früher ein Pirat war und ihre Gepflogenheiten kenne. Es ist wahr, walaalo . Sechs Jahre lang war ich ein Pirat und segelte die Küste hoch und runter. Vom Kap der Guten Hoffnung bishin nach Madagaskar war ich die Geißel der sieben Weltmeere! Diamanten, Gold, Seide, Postpakete, manchmal Menschen … Ja, ich handelte sogar mit Menschen. Nachdem meine Eltern gestorben waren, musterte ich auf einem Piratenschiff an, und als ich vom Kapitän dieses Schiffes alles gelernt hatte, was er mir beibringen konnte, schlich ich mich eines Nachts in seine Kajüte und schnitt ihm die Kehle durch. Ich tötete ihn, und dann versammelte ich die Mannschaft und sagte: ›Der Kapitän ist tot; lang lebe der neue Kapitän!‹ Und das Erste, was ich als Kapitän machte? Ich brachte ein dickes Schloss an der Kajüttür an!« Er gluckste. »Ich war gerade einmal siebzehn. Und innerhalb von zwei Jahren war ich der gefürchtetste Pirat im Indischen Ozean; Awaale den Schrecklichen nannten sie mich. Awaale den Teufel.
Und der Teufel war ich auch. Die Einzigen, die mich noch mehr fürchteten als meine Opfer, waren die Mitglieder meiner Mannschaft. Es kam vor, dass ich einen Mann erschoss, weil er in meine Richtung rülpste. Ich hatte alles, walaalo . Geld, Macht, Ansehen. Jetzt ist alles futsch.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Er seufzte, denn die Erinnerung daran quälte seine Seele. »Mein erster Offizier brachte einen Jungen zu mir – einen Jungen, für den er sich verbürgte –, der eine Koje wollte, und wie ein Narr stimmte ich zu. Er war ungefähr so alt, wie ich es gewesen war, als ich angefangen hatte, auch ein Waisenkind wie ich, und ich hatte Mitleid mit ihm. Er war sehr helle und sehr stark und sehr mutig – wie ein anderer Junge, der beschlossen hatte, dass er ein Pirat sein wollte. Wir wurden ziemlich vertraut miteinander. Er war mir ergeben und ich ihm. Ich fing sogar an zu denken, wenn ich es jemals satthaben sollte, könnte ich das Piratendasein aufgeben und ihm als meinem Erben das Schiff vermachen.«
Dann eines Tages brachte ein Besatzungsmitglied beunruhigende Neuigkeiten zu Awaale. Es hatte zufällig gehört, wie der Junge und der erste Offizier, der Mann, der sich für ihn verbürgt hatte, eines Nachts über das tyrannische Regiment
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