Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
dich stattdessen für Bücher entschieden, hättest du deinen Finger noch.«
Wie ihre Mutter hatte sie von Helrungs Augen, so blau wie ein Bergsee an einem sonnigen Herbsttag. Wenn man sich unter die azurne Oberfläche sinken ließe, würde man ertrinken, um bleiben zu dürfen.
»Wo ist Dr. Warthrop hingegangen?«, fragte sie plötzlich. Diese Frage holte sie mindestens viermal die Woche hervor. Und jedes Mal gab ich ihr dieselbe Antwort, die der Wahrheit entsprach:
»Ich weiß es nicht.«
»Wonach sucht er?«
Ich hatte in der Bibliothek nach einem Bild davon geforscht.Es gab einen sehr langen Eintrag in der Encyclopedia Bestia (mitverfasst von Warthrop), aber kein Bild und keine Beschreibung von Typhoeus magnificum , mit Ausnahme einer ausführlichen Fußnote, welche die verschiedenen fantasiereichen – das heißt unverifizierbaren – Darstellungen des Ungesehenen einzeln aufführte. Er war eine drachenartige Kreatur, wie von Helrung erwähnt hatte, die ihre Opfer »höher als den höchsten Berg« trug, ehe sie sie in ihrer Raserei in Stücke riss; er war eine riesige trollartige Bestie, die Stücke ihrer Beute mit solcher Wucht wegschleuderte, dass sie meilenweit entfernt von dem Ort, an dem ihre Besitzer sie verloren hatten, vom Himmel fielen; er war ein gewaltiger wurmartiger Wirbelloser – ein Verwandter des mongolischen Todeswurms vielleicht –, der sein Gift mit solcher Geschwindigkeit spie, dass es den menschlichen Körper sprengte und zu einem feinen Nebel verdampfen ließ, der als das Phänomen wieder zur Erde sank, das man »roter Regen« nannte.
Der Artikel erwähnte die Begleitumstände der Entdeckung des Lakshadweep- Nidus im Jahre 1851, die Theorien über die Verbreitung des Magnificums (die meisten Monstrumologen waren sich einig, dass sein Vorkommen sich auf die entlegenen Inseln des Indischen Ozeans und Teile von Ostafrika und Kleinasien beschränkte, aber dieser Glaube stützte sich mehr auf Überlieferungen und Erzählungen der Eingeborenen als auf handfeste wissenschaftliche Beweise) und die traurigen Geschichten der Männer, die sich auf die Suche nach dem Gesichtslosen begaben, derjenigen, die mit leeren Händen zurückkamen, und derjenigen, die gar nicht mehr zurückkamen. Besonders ergreifend (und beängstigend) war die Geschichte Pierre Lebroques, eines angesehenen anomalen Biologen – wenngleich ziemlichen Bilderstürmers –, der, nach einer fünfmonatigen Expedition, bei der keine Kosten gescheut wurden (sein Trupp umfasste fünf Elefanten, neunundzwanzig Kulis und einen großen Koffer voller Gold, um die örtlichen Sultane zu bestechen), als delirierender Geistesgestörter zurückkehrte. Seine Familiewar zu der schmerzlichen Entscheidung gezwungen, ihn in eine Irrenanstalt einzuweisen, wo er den Rest seiner Tage in ungelinderter Qual verbrachte und lautstark die unablässige Litanei verkündete: » Nullité! Nullité! Nullité! Weiter ist es nichts! Nichts! Nichts! Nichts!«
»Er sucht nach dem Questentier«, sagte ich ihr.
* * *
Ich nehme an, wir können nicht anders. Alle sind wir Jäger. Sind, in Ermangelung eines besseren Wortes, Monstrumologen. Unsere Beute wechselt je nach Alter, Geschlecht, Interessen, Energie. Manche machen Jagd auf die einfachsten oder albernsten Sachen – das neueste elektronische Gerät oder die nächste Beförderung oder den bestaussehenden Jungen oder das schönste Mädchen an der Schule. Andere jagen nach Ruhm, Macht, Reichtum. Ein paar edlere Seelen jagen dem Göttlichen oder dem Wissen oder der Verbesserung der Menschheit nach. Im Winter des Jahres 1889 pirschte ich mich an einen Menschen heran. Sie denken vielleicht, ich meine Dr. Pellinore Warthrop. Das tue ich nicht. Jene Person war ich.
* * *
Nur zu, mach ihn auf! , sagte der Kurator. Er wollte, dass du es siehst.
Jede Nacht derselbe Traum. Der Verschlossene Raum. Der alte Mann, der mit den Schlüsseln klirrt. Und der Karton. Der Karton und der Junge und der klemmende Deckel und das unsichtbare Wesen, das sich im Karton bewegt, und der alte Mann, der mich ausschimpft: Dummer Junge! Du kriegst ihn nicht auf, weil du schläfst!
Und der dumme Junge, der beginnt aufzuwachen, schwitzend unter den warmen Decken in einem kalten Zimmer, schwankend am Rande davon, das Ungeheuer , die Mitte nichtstandhaltend, das Ich losgelöst, nur das Nicht-ich jetzt wach, das den Schrei eines Wahnsinnigen zurückwirft: » Nullité! Nullité! Nullité! Weiter ist es nichts! Nichts! Nichts!
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