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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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besonders helle.«
    »Und du warst noch nie besonders nett.«
    »Mutter hat nicht gesagt, wo dein Dr. Warthrop hingegangen ist.«
    »Sie weiß es nicht.«
    »Weißt du es denn?«
    »Wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht erzählen.«
    »Nicht einmal, wenn ich dich küssen würde?«
    »Dann erst recht nicht.«
    »Na ja, ich habe auch nicht die Absicht, dich zu küssen.«
    »Und ich habe nicht die Absicht, dir irgendetwas zu erzählen.«
    »Also weißt du es doch!« Sie lächelte mich triumphierend an. »Lügner!« Und dann küsste sie mich trotzdem.
    »Es ist schade, William James Henry«, sagte sie, »dass dugänzlich zu jung, zu schüchtern und zu klein bist, sonst könnte ich dich für attraktiv halten.«
    * * *
    Lillys Überzeugung war nicht unangebracht: Ich war das neue Projekt ihrer Mutter Emily. Nach einer schlaflosen, unerträglich langen Nacht in einem Zimmer mit Reggie, der mir mit Fragen und Flehen um Monstergeschichten auf die Nerven ging und eine besorgniserregende Neigung zu mitternächtlicher Flatulenz zeigte, packte Mrs Bates mich ein und ließ mich zum Friseur traben. Dann brachte sie mich zum Kleiderhändler, danach zum Schuhmacher und schließlich, weil sie genauso gründlich war, wie sie entschlossen war, zum Pfarrer ihrer Kirche, der mich über eine Stunde lang ausfragte, während Mrs Bates in einer Bankreihe saß, die Augen geschlossen und für meine unsterbliche Seele betend, nehme ich zumindest an. Ich gestand dem liebenswürdigen alten Priester, dass ich nicht mehr zur Kirche gegangen war, seit meine Eltern gestorben waren.
    »Dieser Mann, der für dich sorgt … dieser – wie hast du ihn noch gleich genannt? Doktor der ›anomalen Biologie‹? Er ist kein religiöser Mensch?«
    »Ich glaube nicht, dass es viele Doktoren der anomalen Biologie gibt, die das sind«, antwortete ich. Ich erinnerte mich an seine Worte an dem Tag, bevor er mich im Stich gelassen hatte:
    Es ist etwas in uns, das sich nach dem Unsagbaren, dem Unerreichbaren, dem Ding, das nicht zu sehen ist, sehnt.
    »Mir scheint, das ist die Norm für solche Männer, in Anbetracht der Natur ihrer Arbeit.«
    Ich brachte keine entgegengesetzte Meinung vor. Ich hatte wirklich nichts zu sagen. Was ich vor meinem geistigen Auge sah, war ein leerer Kübel, der auf dem Boden neben dem Nekropsietisch stand.
    * * *
    »Nun schau dich einer an!«, rief Lilly, als wir wieder im Haus am Riverside Drive ankamen. Sie war selbst gerade erst heimgekommen; sie hatte ihre Schuluniform noch an und noch keine Zeit gehabt, Schminke aufzulegen. Sie sah aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, ein junges Mädchen, fast in meinem Alter, und irgendwie bewirkte das, dass meine Handflächen zu jucken anfingen. »Ich erkenne dich kaum wieder, Will Henry! Du siehst so …« Sie suchte nach dem Wort. »Anders aus.«
    Später an diesem Abend – viel später; es war nicht leicht im Zuhause der Bates’, Zeit für sich selbst zu haben – warf ich zufällig einen Blick in den Badezimmerspiegel und war schockiert über das Bild des Jungen, das dort eingefangen war. Bis auf den leicht gehetzten Blick in seinen Augen hatte er nur wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen, der sich an einem Feuer gewärmt hatte, das mit den klein gehackten Überresten eines toten Mannes gespeist worden war.
    * * *
    Alles war anders.
    Jeden Morgen gab es ein komplettes Frühstück, zu dem unser Eintreffen pünktlich um sechs erwartet wurde. Niemand durfte mit dieser Mahlzeit – oder mit irgendeiner Mahlzeit – anfangen, bis Mr Bates seine Gabel in die Hand nahm. Nach dem Frühstück gingen Lilly und Reggie fort in die Schule, Mr Bates ging fort zu seiner Arbeit »ins Finanzwesen« und Mrs Bates ging fort mit mir. Sie war entsetzt über das schwindelerregende Ausmaß meiner Unkenntnis in den elementarsten Aspekten einer richtigen Kindheit. Ich war nie in einem Museum oder einem Konzert oder einem Minstrelschauspiel oder dem Ballett oder auch nur dem Zoo gewesen. Ich hatte nie einem Vortrag beigewohnt, ein Theaterstück gesehen, eine Laterna-magica-Vorführung erlebt, ein Zirkuszelt betreten, ein Fahrrad gefahren, ein Buch von Horatio Alger jr. gelesen, einen Drachen steigen lassen, einen Garten gehegt, ein Musikinstrument gespielt oder auf Schlittschuhen gestanden. Ich hatte noch nicht einmal auch nur ein einziges Gesellschaftsspiel gespielt! Keine Scharade oder Blindekuh, wovon ich schon gehört hatte, und kein Pirschjäger oder Cupido kommt oder Stummer Reimer, deren Namen

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