Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
erfährt, wenn ich etwas aus Europa höre. Der Erste, der es erfährt, in dem Moment, wo ich es erfahre.«
»Ich will nicht gehen«, sagte ich. »Ich will Sie nicht verlassen. Ich will nicht bei der Familie Ihrer Nichte bleiben, und ich will nicht … Ich will kein Bad.«
Er lächelte. »Du wirst sie mögen, glaube ich. Sie hat ein leidenschaftliches Herz, so wie jemand anders, den du kennst.«
Vierzehn
»Das Ding, das nicht zu sehen ist«
Und so trug es sich im Winter meines vierzehnten Jahres zu, dass ich bei Nathaniel Bates und seiner Familie lebte, in ihrem dreistöckigen Stadthaus, das dem Hudson zu in der Upper West Side Manhattans lag. Nathaniel Bates war »im Finanzwesen«. Sonst erfuhr ich während meines Aufenthalts dort nicht viel über ihn. Er war ein ruhiger Mann, der Pfeife rauchte und nie ohne Krawatte gesehen wurde und nie ohne seinen Hut nach draußen ging und dessen Schuhe stets blendend blank poliert waren und dessen Frisur immer tadellos war, und immer schien er eine Zeitung unterm Arm stecken zu haben, obwohl ich ihn nie eine lesen sah. Er kommunizierte, soweit ich es beurteilen konnte, mittels monosyllabischer Grunzlaute, Gesichtsausdrücke (ein Blick über seinen Kneifer mit erhobener rechter Augenbraue bedeutete beispielsweise, er war verstimmt) und eines gelegentlichen Bonmots, das mit derart trockener Ernsthaftigkeit zum Vortrag gebracht wurde, dass man immer auf eigene Gefahr lachte.
Außer ihrer Tochter hatten die Bates noch ein weiteres Kind, einen Jungen von neun namens Reginald, den sie Reggie nannten. Reggie war klein für sein Alter, sprach mit einem leichten Lispeln und schien von dem Moment an, da ich durch die Tür trat, völlig gefesselt von mir zu sein. Mein Ruf, so schien es, war mir vorausgeeilt.
»Du bist Will Henry!«, verkündete er. »Der Monsterjäger!«
»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Aber ich diene unter einem.«
»Pellinore Warthrop! Der berühmteste Monsterjäger auf der Welt!«
Ich stimmte mit ihm überein, dass er das war. Reggie blinzelte mich durch seine dicken Brillengläser an, und sein Gesicht war erhellt vom Glanz des großen Mannes, der von mir widerschien.
»Was ist mit deinem Finger passiert? Hat ein Monster ihn abgebissen?«
»Das könnte man so sagen.«
»Und dann hast du es getötet, stimmt’s? Du hast ihm den Kopf abgehackt!«
»Das ist nah dran«, antwortete ich. »Dr. Warthrop hat ihm einen Kopfschuss verpasst.«
Ich dachte, er würde vor Aufregung in Ohnmacht fallen.
»Ich will auch ein Monsterjäger sein, Will. Bildest du mich aus?«
»Ich denke nicht.«
Reggie wartete, bis seine Mutter uns den Rücken zukehrte, und dann trat er mir so fest er konnte gegen das Schienbein.
* * *
Ihre Tochter hatte ich bereits kennengelernt.
»Da bist du also, und Mutter hatte recht, du hast einen Finger verloren«, sagte Lillian Bates. Ich hatte gerade mein Bad beendet – das erste seit Wochen –, und meine Haut fühlte sich zu lose auf den Knochen an, und meine Kopfhaut brannte von der Lauge. Der Bademantel, den ich trug, gehörte ihrem Vater, und ich verlor mich darin; mir war übermäßig warm, und ich war benommen und äußerst schläfrig.
Lilly für ihren Teil wirkte größer, dünner und schien sich nicht im Geringsten unwohl in ihrer eigenen Haut zu fühlen. Es war erst ein paar Monate her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, aber ein Mädchen reift schneller heran als ihre männlichen Gegenstücke. Mir fiel auf, dass sie begonnen hatte, Schminke zu tragen.
»Wie hast du deinen Finger verloren?«, fragte sie.
»Beim Beschneiden der Rosensträucher«, antwortete ich.
»Lügst du, weil du dich schämst, oder lügst du, weil du glaubst, es ist komisch?«
»Weder noch. Ich lüge, weil die Wahrheit schmerzlich ist.«
»Mutter sagt, dein Doktor hat dich verlassen.«
»Er kommt wieder zurück.«
Sie bedachte mich mit einem Naserümpfen. »Wann?«
»Nicht schnell genug.«
»Mutter sagt, es kann sein, dass du eine lange Zeit bei uns bleibst.«
»Das kann ich nicht.«
»Das wirst du, wenn Mutter es sagt. Mutter setzt immer ihren Kopf durch.« Diese Tatsache schien sie nicht besonders glücklich zu machen. »Ich glaube, du bist ihr neues Projekt. Sie hat immer ein Projekt . Mutter hält viel von Sachen. Sie ist eine Suffragette. Hast du das gewusst?«
»Ich weiß nicht einmal, was eine Suffragette ist.«
Sie lachte, ein Klimpern heller, glänzender Münzen, die auf ein Silbertablett geworfen wurden. »Du warst noch nie
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