Der Montagsmann: Roman (German Edition)
Art hatte sie es schon gespürt, bevor eine der Schwestern ihr das erste Mal auf ihren Wunsch hin einen Handspiegel ans Bett gebracht hatte. Doch was nützte es ihr, wenn sie in ihren eigenen Augen so ungewohnt und unvertraut aussah, dass ihr Gesicht ebenso gut einem beliebigen Model in einem Frauenmagazin hätte gehören können? Was hatte sie von einem Äußeren, das anderen zwar gefiel, ihr selbst jedoch absolut fremd war?
»Die Sache mit Ihrem Verlobten«, begann er.
Sie hob die Hand, bevor er weiterreden konnte. »Ich weiß schon, was Sie sagen wollen: Er ist wieder weg.«
»Eigentlich sollte er Sie mitnehmen.«
»Wie es aussieht, hatten wir vor dem Unfall vor, uns zu trennen. Ich glaube, er ist jetzt deswegen immer noch hin und her gerissen.« Sie runzelte die Stirn. »Dasselbe gilt ehrlich gesagt auch für mich. Die Vorstellung, mich einem Menschen anzuvertrauen, von dem ich noch weniger weiß als von Ihnen, ängstigt mich ziemlich.«
»Sie könnten sich mir anvertrauen. Von mir wissen Sie immerhin, dass ich kurzsichtig, überarbeitet und aufdringlich bin.«
Isabel lachte. »Sie sind nett! Und Sie haben keinen einzigen Tick!«
Er grinste sie an. »Sie meinen, solche Dinge wie an den Ohren zu reißen und mit dem Finger Löcher ins Gesicht zu bohren?«
»So ungefähr.«
Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »In Anbetracht Ihrer besonderen Situation möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Unsere Klinik betreut einige beschützende Wohngemeinschaften. Dort leben Menschen, die … na ja, sie sind geistig ein wenig beeinträchtigt.«
Isabel schluckte. »Sie meinen, da würde ich gut reinpassen?«
»Nein, das meinte ich nicht. Sie könnten für sich sein. Falls Sie Wert darauf legen. Niemand kann Sie zwingen, sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben, bei denen Sie sich unerwünscht oder fehl am Platze vorkommen.«
Isabel seufzte. »Ich kenne mich ja nicht mal selber. Wenn ich mich überhaupt irgendwo sicher fühlen kann, dann eigentlich nur bei Leuten, die wenigstens mich kennen. Und mich halbwegs mögen.« Sie dachte kurz nach, dann setzte sie hinzu: »Hoffe ich jedenfalls.«
»Eine Frau wie Sie? Wer sollte Sie nicht mögen!«
»Keine Ahnung«, sagte sie vage, erschrocken über die Gefühle, die unvermittelt in ihr aufwallten und ihr Unbehagen einflößten. Etwas sagte ihr, dass es sehr wohl Leute gab, die sie nicht ausstehen konnten. Woher jedoch diese plötzliche Erkenntnis kam, vermochte sie nicht einzugrenzen. Sie konzentrierte sich und versuchte, dem nachzuspüren, was sich gerade eben wie ein kleiner Zipfel der Vergangenheit angefühlt hatte, doch je mehr sie danach strebte, es zu ergründen, umso rascher versank es im Dunkel ihres verlorenen Gedächtnisses.
Doktor Mozart stand auf und ging zur Tür. »Wenn Sie mich brauchen …«
»Dann rufe ich Sie«, beendete sie gewohnheitsmäßig den Satz, mit dem er jedes Mal das Zimmer verließ.
Er war kaum verschwunden, als sich neuer Besuch ankündigte.
»Hier kommen gute Freunde!«, meinte eine leutselige Stimme von der Tür her.
Isabel bezwang ihr aufgeregtes Herzklopfen, als sie den italienischen Akzent hörte und gleich darauf den Mann sah, zu dem die Stimme gehörte. Im ersten Moment war sie davon überzeugt, jemand aus ihrer Vergangenheit sei aufgetaucht, ein Mensch, den sie von früher kannte und der jetzt einen Wiedersehenseffekt in ihr auslöste – vielleicht der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung!
Doch gleich im nächsten Moment erkannte sie ihren Irrtum. Sie hatte den Mann schon gesehen – aber nach ihrem Unfall.
»Hallo«, sagte sie schlecht gelaunt, als der Typ näher kam. Er trug sein Haar mit Gel an den Kopf geklatscht, und der Maßanzug aus feiner grauer Seide konnte nicht kaschieren, dass er leicht übergewichtig war. Die Frau, die hinter ihm ins Zimmer kam, war etwa einen halben Kopf größer als er. Sie hatte stufig geschnittene brünette Locken und war umwerfend schön. Auch bei ihr glaubte Isabel für einen Moment, sie von früher zu kennen, doch dann merkte sie, dass der Effekt einen anderen Grund hatte: Die Frau sah haargenau so aus wie Gina Lollobrigida in Der Glöckner von Notre Dame , nicht nur, weil sie einen schwingenden, weit ausgestellten Rock und eine extrem tief ausgeschnittene Bluse trug, sondern weil sie dieselben schmollenden Lippen und dunklen, dicht bewimperten Augen hatte.
Der Typ, mit dem sie gekommen war, hätte einen guten Glöckner abgegeben, von der Größe her stimmte es, nur der
Weitere Kostenlose Bücher