Der Montagsmann: Roman (German Edition)
wachsender Kraft.
Jemand schob das Mikro auf dem Klavier zurecht, doch sie merkte es nur daran, dass ihre Stimme lauter und voller klang. Sie öffnete nicht die Augen. Auf einer anderen Ebene war sie sich der Tatsache bewusst, dass ringsum die Gespräche verstummten, zuerst einige, dann mit einem Mal alle, bis nur noch die Musik und ihre Stimme zu hören waren. Sie spielte und sang ihr Lieblingslied, diesen wunderschönen, getragenen Song von Norah Jones. »Come away with me and we’ll kiss …« Ihre Augen blieben geschlossen, und sie lehnte sich leicht zurück, weil sie das Gefühl hatte, mehr Platz zu brauchen. »On a mountaintop …«
Jemand links hinter ihr raunte, aber er hätte auch schreien können, sie hätte es ausgeblendet, so wie alles um sie herum. »Come away with me … And I’ll never stop loving you …«
Ihre Augen brannten, als sie fertig war, und sie zuckte verwirrt zusammen, als um sie herum Beifall aufbrandete. Die Leute klatschten und stampften mit den Füßen, sie riefen und lachten durcheinander, und als Isabel Anstalten machte, aufzustehen, wurden Proteste laut.
»Mehr!«, rief jemand, und ein anderer schrie: »Zugabe!«
Jemand stellte ihr ein randvolles Glas auf den Flügel. »Ein Bier für die Frau am Klavier!«
Das Bier sah merkwürdig aus, nicht so wie das, was sie mit Fabio getrunken hatte. Es schmeckte schärfer als das stärkste Mundwasser und war … – sie trank noch einen Schluck – purer Gin. Kein Lieblingsdrink, aber es half gegen das Lampenfieber.
Sie wusste nicht, wie sie sich dem Wunsch der Zuhörer entziehen sollte, und gab ein weiteres Stück zum Besten, und danach noch eins, weil die Leute mit den Füßen trampelten und mehr wollten. Nach einem dritten Lied reichte es ihr, und sie stand auf, um zur Bar zurückzugehen.
»Sie können jetzt unmöglich aufhören«, sagte Hubertus Frost, als sie, von Beifallrufen und lautem Klatschen begleitet, wieder auf ihren Hocker kletterte. Er strahlte sie an. »Sie sind grandios! Wo haben Sie studiert?«
Sie schaute ihn nur verständnislos an.
»Hören Sie, ich verstehe ein bisschen was davon«, sagte er. »Meine Mutter war Klavierlehrerin. So, wie Sie hier spielen und singen – das kann man nicht von allein, und schon gar nicht lernt man es so nebenher.«
»Tja«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass ich ein paar Semester Innenarchitektur studiert habe, auch wenn ich das völlig vergessen habe. Falls ich außerdem Musik belegt hatte, so ist mir das leider auch entfallen.« Sie hob die Hand und winkte dem Barkeeper. »Einen Caipirinha, bitte!« Verschwörerisch wandte sie sich an Hubert. »Ich glaube, das ist auch einer meiner Lieblingsdrinks.«
»Was meinen Sie mit vergessen ?«, wollte Hubertus wissen.
Fröhlich erwiderte sie sein Lächeln. »Mit vergessen meine ich vergessen. Ich leide an einer retrograden Amnesie.« Die beiden letzten Wörter kamen leicht genuschelt heraus, was daran liegen mochte, dass ihr die drei Drinks – oder waren es schon vier? – inzwischen zu Kopf gestiegen waren. Sie schaute Hubertus blinzelnd an. Anscheinend war er im Begriff, sich zu verdoppeln. Egal. Er war da und hörte ihr zu. Er war ein Mensch an ihrer Seite. Zwar nicht im übertragenen Sinne, bloß buchstäblich, aber immer noch besser als niemand.
»Eine Amnesie? Ist das Ihr Ernst?«
Sie nickte nachdrücklich. »Ein Unfall. Auf den Kopf gefallen, richtig heftig. Alles war w-weg.«
»Alles?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen.
»Alles. Es ist n-nichts mehr da. Niente, nada, rien, nothing.« Sie rieb sich die Stirn. »Falls Sie glauben, dass ich scherze – schön wär’s. Leider ist es die reine Wahrheit. Außerdem bin ich p-pleite und kann nicht richtig bügeln und putzen, deshalb k-komme ich finanziell auch bestimmt auf keinen grünen Zweig mehr.«
Macht aber nichts, fügte sie in Gedanken großmütig hinzu. Dafür kann ich Klavier spielen und singen. Wenn das nichts ist! Na gut, stimmlich war sie nicht dasselbe Kaliber wie Norah, aber am Klavier konnte sie mithalten. Auf jeden Fall.
»Wahnsinn«, sagte jemand hinter ihr. Es war der Bassist, der an die Bar gekommen war. »Wo haben Sie studiert?«
»Das hat sie vergessen«, sagte Hubertus.
»Macht nichts«, sagte der Bassist. »Dafür kann sie Klavier spielen und singen. Und zwar spitzenmäßig. Haben Sie in der nächsten Zeit schon viele Gigs oder hätten Sie Lust, bei ein paar Sachen mitzumachen?«
»Gig – das heißt so viel wie bezahltes Engagement, oder?«, wollte
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