Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
vielleicht aus! Und wieso bist du überhaupt gestolpert, ist das glatt hier?«
Er sagt nichts. Der Gestank vom Pferdemist brennt ihm in der Nase. Wieder hat er das Gefühl, daß es vor seinen Augen flimmert, aber das sagt er nicht. Sie wischt vorsichtig seinen Rücken ab, streicht sich die letzten Tränen von der Wange.
»Wieso denn geknickt?« fragt sie dann, und jetzt liegt mehr Besorgnis in ihrer Stimme.
»Naja«, sagt er, »ich weiß nicht so genau. Ich hab wohl nicht aufgepaßt. Du weißt doch, ich bin ein Schussel.«
Im Grunde weiß er, daß das nicht stimmt. Er hat wieder dieses Gefühl von Schwäche in den Gelenken, zuerst scheint etwas sich zu wehren, dann verliert er alle Kraft. Er hat ein ekelhaftes Ziehen in seiner Brust, eine zunehmende Unruhe, könnte ihm etwas fehlen? Er findet es seltsam, er ist doch nie krank. In seiner ganzen Erinnerung ist er niemals krank gewesen, seit seiner Kindheit nicht mehr. Damals hatte er Röteln und alles, was dazugehört. Aber jetzt nicht mehr, nicht als Erwachsener. Er geht aus dem Stall, streift die Jacke ab und schüttelt sie so fest er kann, das hilft aber überhaupt nicht. Während er da in der Kälte und Dunkelheit steht, während er an seinem eigenen Körper hinabsieht, kommt die Angst angeschlichen. Etwas ist dabei, ihn einzuholen. Eine Strafe, weil seine Sünde so groß ist. Er wird nicht entkommen. Er steht frierend unter den Sternen. Das war zu schön, um wahr zu sein, denkt er, das, was Julie und ich gefunden haben. Lieber Gott, nimm es mir nicht weg! Dann schüttelt er verwirrt den Kopf. Holt Luft und reißt sich zusammen. Er fühlt sich wieder ganz normal, so, als sei das alles nicht passiert. Nicht doch, er ist gesund und munter. Die Karre war so schwer, sie hatte vielleicht rechts ein wenig mehr Gewicht, dann läßt sie sich nicht lenken, so hängt das zusammen. Vielleicht ist er auf dem Stallboden auf Eis getreten, es ist so hundekalt, es gibt viele Möglichkeiten. Er muß wieder hineingehen, aber er weiß nicht, was er sagen soll. Es fällt ihm so schwer, mit diesem Zwischenfall umzugehen. Resigniert schüttelt er den Kopf.
»Ich werde alt«, sagt er und geht zum Waschbecken. Er öffnet den Hahn, schlägt sich eiskaltes Wasser ins Gesicht.
Sie protestiert und striegelt weiter. Lange, langsame Bürstenstriche, Crazy leuchtet rot im Licht der Lampe, er kaut mit unerschütterlicher Ruhe Heu.
»Ist das schon mal passiert?« fragt sie plötzlich und mustert ihn mit scharfem Blick.
Er hat keine Lust zu antworten. Aber jetzt sind sie ja zusammen, sie dürfen keine Geheimnisse haben, nicht mehr als unbedingt nötig.
»Ja«, gibt er zu. »Zweimal. Aber ich habe das nicht weiter beachtet, es ist sicher nur eine schlechte Gewohnheit, daß ich nicht richtig aufpasse.«
Sie legt die Bürste weg und hebt die Decke hoch, breitet sie über den Pferderücken.
»Ich finde, du solltest zu einem Arzt gehen«, sagt sie.
Er denkt darüber nach, was sie gesagt hat. Er geht nie zum Arzt, er ist nie krank. Und was sollte er auch sagen? Es kommt vor, daß ich ausrutsche und falle. Das passiert doch sicher allen. Aber dann ist da noch das Flimmern vor den Augen. Besteht zwischen beidem ein Zusammenhang? Spielen sich in seinem Körper Veränderungen ab, von denen er nichts weiß? Wieder schaut er an sich hinunter. Es kann doch nicht sein, daß sein Körper ihm nicht gehorchen will. Dieses Gefühl macht ihn wütend, er merkt, wie der Trotz seine Wangen glühen läßt.
»Ja«, sagt er. »Ich rufe morgen an.« Er nickt, um seine Entschlossenheit zu betonen.
Sie schließen die Boxentür und gehen auf den Ausgang zu, knipsen die Deckenlampe aus. Julie öffnet die Tür, und Charlo merkt, wie die eiskalte Luft überall hereinkriecht. Er hat das Gefühl, daß sie bis in seinen Herzmuskel dringt. Es gibt soviel, was den Menschen widerfahren kann. Und er hat das Gefühl, daß er es überhaupt nicht wissen will. Er will dieses Leben jetzt leben, will nicht von Bagatellen gestört werden. Trotzdem ruft er am nächsten Tag einen Arzt an und läßt sich einen Termin geben.
DR. GRAFF MISST den Blutdruck und stellt fest, daß der hervorragend ist. Charlo sitzt auf der Stuhlkante und trägt nur sein Unterhemd. Er kommt sich schrecklich nackt vor. Er, ein erwachsener Arbeiter, geht zum Arzt, weil er über seine eigenen Beine stolpert, das ist doch erbärmlich. Der Arzt tippt eifrig auf der Tastatur, gibt alles in den Krankenbericht ein. Ob er raucht, wieviel. Ob er gut schläft, ob er
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