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Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Titel: Der Mord an Harriet Krohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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meine Zeit gekommen? Ist die Luft nicht kälter als sonst, ein mahnender, eisiger Hauch, der Gefahr ankündigt?
    Sie sitzen zusammen im Wartezimmer. Plötzlich nimmt Julie seine Hand.
    »Nervös?« flüstert sie.
    Er lacht und sagt nein. Nein, meine Liebe, das ist doch nur eine Routineuntersuchung. Ich habe ein bißchen übertrieben und schäme mich dafür.
    »Du fühlst dich also ganz gesund?«
    Er schaut an sich hinab, auf die Stiefel mit den braunen Schnürsenkeln. Seine Füße stehen fest auf dem Boden und er hat die volle Kontrolle über beide.
    »Ja«, sagt er energisch. »Und jetzt fühle ich mich wie ein Jammerlappen. Geh zum Arzt, weil ich über eine Schubkarre gestolpert bin. Ich wüßte ja gern, was der sich so denkt, Julie. Bist du schon mal über eine Schubkarre gestolpert?«
    Sie lächelt und nickt. »Ja. Oder das war noch schlimmer. Ich hatte die Karre voll und habe die Luke aufgemacht. Und dann wollte ich die Karre heben, um den Mist auszukippen, aber sie zog nur nach unten und klemmte sich fest. Diese Karren sind doch schrecklich schwer. Wir mußten uns zu dritt abrackern, um sie wieder hochzukriegen.«
    »Ja«, sagt Charlo. »Aber du bist nicht zum Arzt gegangen, um dir Blut abnehmen zu lassen. Nein, ich werde wohl alt«, fügt er mit traurigem Lächeln hinzu. »Alt und ängstlich. So, jetzt bin ich an der Reihe. Vielen Dank für alles«, er lacht und steht auf. Dr. Graff steht in der Tür, groß, dunkel und dünn. Reicht ihm eine trockene weiße Hand. Das ist die gleiche Zeremonie wie beim ersten Mal. Sie schütteln einander die Hand und gehen ins Sprechzimmer. Der Arzt schließt die Tür. Zeigt auf den leeren Sessel, setzt sich hinter den Schreibtisch. Charlo schaut ihn an, aber sein Gesicht verrät nichts, es ist eine neutrale, gelassene Maske. Zuerst wendet er sich dem Computer zu und holt alles über Charlo auf den Bildschirm. Dort, denkt er, liegen die Antworten. Jetzt geht es nur noch um Sekunden, ehe das Urteil fällt. Leukämie, denkt er, Diabetes.
    »Ja«, sagt der Arzt endlich und schaut Charlo ins Gesicht. »Wie geht es Ihnen denn zur Zeit?«
    »Ich bin hervorragend in Form«, sagt Charlo. »Wenn mir also etwas fehlt, dann kann es nichts Ernstes sein. Nein, ich habe nichts bemerkt. An meinem Sehvermögen ist nichts mehr auszusetzen. An meinen Beinen auch nicht«, fügt er hinzu. Dann schweigt er und wartet. Der Arzt betrachtet die Ergebnisse der Bluttests und reibt sich das Kinn.
    »Die Symptome, die Sie mir neulich beschrieben haben, haben sich nicht wieder eingestellt? Ist das so?«
    Charlo nickt eifrig. Er will doch hinaus zu Julie, will das hier hinter sich lassen.
    »Ich hatte sicher einfach nur Pech«, sagt er. »Ich habe meine Füße nicht unter Kontrolle, ich bin ein Tolpatsch. Es ist ja auch Winter und so, Schneematsch auf der Straße. Meine Stiefel sind glatt, ich muß mir andere besorgen. Es tut mir leid, daß ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe, aber für einen Moment habe ich mir Sorgen gemacht. Man weiß ja nie, aber ich fühle mich gesund.«
    Der Arzt hört zu und nickt.
    »Ja, es ist also so«, sagt er und schaut auf den Bildschirm, »daß wir etliche Tests gemacht haben. Und wir haben keinerlei anormale Werte gefunden. Aber sagen wir es einmal so. Kommen Sie wieder, wenn es noch einmal passiert, denn dann müssen wir die Sache genauer unter die Lupe nehmen. Sie haben also das Gefühl, gut in Form zu sein?«
    »Und wie«, sagt Charlo glücklich.
    »Und Ihr Sehvermögen? Merken Sie da etwas?«
    »Nur Kleinigkeiten. Bestimmt brauche ich eine Brille.«
    »Ja, es wäre sicher nicht falsch, einen Optiker aufzusuchen. Gibt es Star in Ihrer Familie?«
    »Den üblichen grauen. Aber bin ich dafür nicht ein bißchen zu jung?«
    »Das kann schon sein«, sagt der Arzt. »Aber so, wie die Lage jetzt ist, sehe ich keinen Grund, einen großen Apparat in Bewegung zu setzen. Wir wollen erst einmal abwarten. Aber kommen Sie sofort zurück, wenn Sie sich unsicher fühlen. Sie können jederzeit anrufen.«
    Charlo springt auf und zieht sein Hemd an. Er hat sich noch nie so wohl gefühlt.

JETZT IST ALLES GUT.
    Aber es ist zerbrechlich. Er geht über eine dünne Eisschicht. Er balanciert durch den Tag, schaut über die Schulter, fährt zusammen, wenn das Telefon klingelt. Aber niemand kommt, niemand fragt nach ihm, auf der Straße steht kein fremdes Auto.
    Es ist Spätwinter. Alles ist heller, leichter, milder. Der Schnee in den Gräben und an den Hängen verwandelt sich in Matsch, die

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