Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
gut ißt. Ob er irgendwelche Allergien hat, ob in der Familie erbliche Krankheiten vorkommen, solche Dinge. Charlo antwortet ehrlich und pflichtbewußt.
»Sie wissen also nicht mit Sicherheit, ob Sie über irgend etwas gestolpert sind oder ob Ihr Knie nachgegeben hat?«
»Es kann Eis gewesen sein«, sagt Charlo, weil das seine Hoffnung ist. »Und dann ist da dieses Flimmern vor den Augen. Vielleicht brauche ich eine Brille. Ich bin doch in dem Alter.«
»Wir werden ein paar Bluttests machen«, sagt der Arzt. Seine Stimme ist neutral und beruhigend. »Damit wir uns keine unnützen Sorgen machen müssen.«
Charlo nickt und greift nach seinem Hemd. Er fragt sich, woran der Arzt denkt, weshalb er sich vielleicht Sorgen machen könnte, aber er wagt nicht, danach zu fragen. Ihm wird ein Stück Papier in die Hand gedrückt und aufgetragen, vor dem Labor zu warten. Gleichzeitig bekommt er einen neuen Termin.
Eine Arzthelferin nimmt ihm Blut ab. Er schaut dem dünnen roten Strom hinterher und fragt sich, was das Blut wohl sagt. Wovon er zuviel oder zuwenig hat. Er will weg hier, er will in den Stall. Er will so tun, als sei das hier nicht passiert. Dann schimpft er sich deswegen aus. Der Körper ist doch kein perfekter Organismus, er versagt ab und zu, das macht er bei uns allen. Als die Arzthelferin genug Blut hat, erhebt er sich. Er richtet sich auf und streift den Ärmel nach unten, steht da mit seinen breiten Schultern, zieht den Bauch ein. Führt vor, wie gut er in Form ist. Das scheint sie nicht sonderlich zu interessieren.
Hat sein Verbrechen ihn vielleicht vergiftet? In seinem Kopf hat er alles in Ordnung gebracht, er versucht, das Verbrechen hinter sich zu lassen, aber vielleicht sickert es ins System und schwächt ihn? Reue, Schuld und Panik verwandeln sich in eine lähmende Substanz, die sich in seine Gelenke, seine Muskeln und Nerven frißt? Er versucht, über diese Gedankenspinnerei zu lachen. Wenn ihm wirklich etwas fehlt, dann muß es von Anfang an in seinen Genen gelegen haben. So, wie er sich vorstellt, daß alle kodiert sind, und daß es im Laufe der Zeit alles ausgelöst wird, alle Krankheiten, alle Katastrophen. Hat auch das Verbrechen in den Genen gelegen? Ist er mit dieser Veranlagung geboren worden, oder haben nur die Umstände ihn zum Mörder gemacht? Es quält ihn, daß er keine Antwort bekommt. Er will seine Schuld bearbeiten, sie irgendwo außerhalb von sich selbst plazieren. Nicht bei meinen Eltern, denkt er, nicht bei Inga Lill und Julie. Nicht in seinem eigenen Charakter, denn er ist überhaupt nicht aggressiv. Er ist nie aufbrausend. Fast nie. Er wird nicht ausfällig, wenn er trinkt. In der Schule war er einigermaßen gut und hat die üblichen Jungenstreiche absolviert. Jetzt ist er ein Ehrenmann. Er hält nicht im Parkverbot, er hinterzieht keine Steuern. Er sagt auf dem Sozialamt jedesmal Bescheid, wenn er von Møller Geld bekommt. Er kümmert sich um Julie, mild, väterlich und aufopfernd. Aber dieses eine Mal ist ihm alles entglitten, bei Harriet Krohn im Haus. Sie hätte ihn nicht angreifen dürfen, sie hätte sich ruhig verhalten und ihn sein Vorhaben in Ruhe ausführen lassen müssen. Dann hätte sie ihr Leben gerettet, denkt er, dann würde sie jetzt noch herumlaufen, in dem häßlichen grünen Kleid, und sich mit Konfekt vollstopfen.
DIE TAGE VERGEHEN LANGSAM , während er auf die Ergebnisse wartet.
Er sieht auf den Kalender und zählt sie, schwankt zwischen Hoffnung und Besorgnis. Er will diesen Tag hinter sich bringen, er will weiter, es soll keine Probleme geben. Julie soll glücklich sein, und er soll zu Diensten stehen, so lange er kann. Der Tag kommt, er ist trübe und naß, er hat mit dem Gedanken gespielt, daß Sonnenschein ein gutes Zeichen wäre. Er bekommt keinen Sonnenschein, sondern einen rauhen Wind, der durch die Straßen fegt und seine schütteren Haare zu Berge stehen läßt. Sein Termin ist um drei Uhr, und Julie sagt, dann komme ich mit. Ich kann ein wenig früher aus der Schule weggehen, und dann gehen wir zusammen zum Arzt. Charlo ist gerührt und besorgt zugleich, denn wenn es schlechte Nachrichten gibt, wird er es nicht schaffen, die zu verbergen. Ihr muß die Angst erspart bleiben. Aber er ist doch so gesund. Er kann nicht glauben, daß ihn irgendeine Krankheit erwischt hat. Dann reißt er sich zusammen. Natürlich kann er irgendeine Krankheit in sich haben, das passiert allen, das ist nur eine Frage der Zeit. Wird es jetzt passieren, überlegt er, ist
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