Der Mord zum Sonnntag
ließ nicht locker. «Ein Kritiker hat geschrieben, er
wär ’n junger Neil Simon.»
«Komm schon, Schatz», drängte Willy. «Du hältst die
Leute auf.»
Plötzlich schmolz die eisige Starre in Victoria Rumsons
Gesicht dahin. «Darling», sagte sie, «ich hab schon von
Brian McCormack gehört. Warum liest du das Stück denn
nicht hier? Wenn du dir’s ins Büro schicken läßt, geht’s
doch bloß unter.»
«Das ist wirklich nett von Ihnen, Victoria», entgegnete
Alvirah herzlich. «Morgen kriegen Sie’s.»
Auf dem Weg vom Fahrstuhl zur Wohnung fragte Willy:
«Meinst du nicht, Schätzchen, daß du ’n bißchen zu stark
auf die Tube gedrückt hast?»
«Keine Spur», erwiderte Alvirah. «Wer nicht wagt, der
nicht gewinnt. Wenn ich Brian bei seiner Karriere helfen
kann, ist mir jedes Mittel recht.»
Ihre Wohnung bot einen umfassenden Blick auf den
Central Park. Beim Hereinkommen dachte Alvirah
jedesmal daran, daß sie noch vor nicht allzu langer Zeit
das Haus von Mrs. Chester Lollop in Little Neck, bei der
sie jeden Donnerstag putzte, für ein Schlößchen gehalten
hatte. Die letzten paar Jahre hatten ihr erst richtig die
Augen geöffnet!
Sie hatten die Wohnung komplett möbliert von einem
Börsenmakler erworben, der wegen irgendwelcher
Manipulationen unter Anklage stand. Er hatte sie gerade
von einem Designer einrichten lassen, dem absoluten Hit
in Manhattan, wie er ihnen versicherte. Insgeheim
bezweifelte Alvirah das mittlerweile ernsthaft.
Wohnzimmer, Eßzimmer und Küche waren ganz in Weiß
gehalten. Es gab niedrige weiße Sofas, aus denen sie sich
hochwuchten mußte, dicke weiße Teppiche, auf denen der
kleinste Fleck zu sehen war, weiße Tische und Schränke
und Marmor und Geräte.
An der Terrassentür klebte ein großes gedrucktes Schild.
Eine Gebäudeinspektion hat ergeben, daß diese
Wohnung zu den wenigen gehört, bei denen an Geländer
sowie Einfassung der Terrasse bedenkliche
Konstruktionsmängel festgestellt wurden. Ihre Terrasse
kann ohne jedes Risiko normal genutzt werden, doch
vermeiden Sie es, sich auf das Geländer zu stützen oder
dies anderen zu gestatten. Die Reparaturarbeiten werden
so schnell wie möglich ausgeführt.
Alvirah zuckte die Achseln. «So schlau bin ich ja nun
von allein, mich auf kein Geländer zu stützen, Risiko hin
oder her.»
Willy lächelte verzagt. Er litt unter einer heillosen
Höhenangst und hatte die Terrasse noch nie betreten.
Beim Kauf der Wohnung hatte er erklärt: «Du magst ’ne
Terrasse. Ich hab’ gern festen Boden unter den Füßen.»
Willy ging in die Küche, um den Kessel aufzusetzen.
Alvirah öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Die
schwüle Luft schlug ihr glühend heiß ins Gesicht, doch
das machte ihr nichts aus. Es hatte seinen besonderen
Reiz, da draußen zu stehen, über den Park hinweg auf die
festlich leuchtenden geschmückten Bäume um die Tavern
on the Green zu schauen, die endlose Kette der
Autoscheinwerfer, die Pferdekutschen im Hintergrund.
Wie gut, daß wir wieder daheim sind, dachte sie
abermals, als sie hineinging und das Wohnzimmer
inspizierte, mit sachkundigem Blick den Wirkungsgrad
des wöchentlichen Reinigungsdienstes einschätzte, der am
Vortag fällig gewesen wäre. Zu ihrem Erstaunen entdeckte
sie auf der Glasplatte des Couchtisches überall
Fingerspuren. Automatisch griff sie nach einem
Taschentuch und rubbelte sie weg. Dann stellte sie fest,
daß neben der Terrassentür die Vorhangschlaufe
verschwunden war. Hoffentlich ist sie nicht im
Staubsauger gelandet, dachte sie. Wenigstens war ich eine
gute Putzfrau. Sie erinnerte sich an die Worte der
Stewardeß im Flugzeug.
«He, Alvirah», rief Willy. «Hat Brian ’ne Nachricht
hinterlassen? Sieht so aus, als hätte er jemanden erwartet.»
Brian, Willys Neffe, war das einzige Kind seiner ältesten
Schwester, Madelaine. Von Willys sieben Schwestern
waren sechs ins Kloster gegangen. Madelaine hatte als
Vierzigerin geheiratet und in den Wechseljahren noch ein
Baby zur Welt gebracht, Brian, inzwischen
sechsundzwanzig. Er war in Nebraska aufgewachsen, hatte
für eine dortige Repertoirebühne Stücke geschrieben und
war nach New York gekommen, als Madelaine vor zwei
Jahren starb. Brian mit seinem mageren, empfindsamen
Gesicht, dem widerspenstigen rotblonden Haar und dem
scheuen Lächeln weckte in Alvirah all ihre
unverbrauchten mütterlichen Instinkte. «Mehr könnte ich
ihn auch nicht lieben, wenn ich ihn neun Monate unter
dem
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