Der Morgen der Trunkenheit
und blau. Die Leute aus dem Viertel haben viel unter ihnen zu leiden. Aber das ist noch gar nichts. Sie müßten erst einmal ihre Brüder sehen. Dash Akbar ist berüchtigt.«
»Wie sind sie denn?«
»Er ist ein richtiger Messerheld. Ein Dieb und Wegelagerer. Sie sind wie die Tiere. Weh dem, der ihnen in die Quere kommt. Der eine arbeitet in der Seifensiederei und der andere jeden Tag anderswo. Einen Tag knetet er beim Bäcker den Teig, am nächsten steht er im Gemüsegeschäft und am übernächsten ist er Lehrling beim Kalleh-Paz. Er ist so bösartig, daß ihn niemand behalten will. Es sind richtige Schläger. Ihre Mutter webt Schrupplappen fürs Hammam und stellt Ssefidab her. Es ist eine schlimme Bande. Sie eignet sich nicht für Sie.«
»Sie sagten, ihr Onkel wäre Gendarm?«, fragte ich.
»Ja… ein ganz durchtriebener. Er betrügt und erpreßt alle. Da kennt er weder Freunde noch Nachbarn.«
Ich war sprachlos. Wo hatte Rahim die nur aufgetrieben?
Die Frau sagte, »Aber treten Sie doch bitte ein, und trinken Sie ein Glas Sherbet. So geht es doch nicht.«
»Ich danke Ihnen sehr, aber ich muß gehen. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir.«
»Chanum Djan, behalten Sie diese Worte um Gottes willen für sich!… Ich habe es Ihnen nur aus Mitleid erzählt. Es wäre schadeum Ihren Bruder, wenn er sich ins Verderben stürzte. Daß Sie es ihnen bloß nicht erzählen! Wir würden nur Scherereien bekommen.«
»Ich bitte Sie, Chanum, ich bin doch nicht naiv. Alles, was Sie gesagt haben, bleibt unter uns.«
Ich kehrte langsam nach Hause zurück. Ich wollte möglichst spät ankommen. Verwundert stellte ich fest, daß es mich nicht sonderlich bekümmerte. Tatsächlich war ich überhaupt nicht betrübt. Es war mir egal. Als wäre ich von allem weit entfernt. Diese Probleme betrafen mich nicht. Ich empfand keinen Kummer. Mein Herz war aus Stein. Kummer und Freude betrafen jene, die eine Seele hatten. Die lebendig waren und in diesem Leben Hoffnung und Ziele besaßen. Ich hatte so viele Demütigungen erlitten, und meine Seele stand unter solch einem Druck, daß ich wie gelähmt war. Ich hatte mein Empfinden verloren. Ich konnte weder fühlen noch klar denken. Ich war apathisch geworden. Welcher Schicksalsschlag, grausamer als der Tod meines Sohns, hätte meine Schmerzen und meinen Kummer noch weiter schüren können? Mein Herz war erfüllt davon, so daß nichts mein Unglück hätte vergrößern können. Ich hatte vergessen, wie sich ein Leben ohne Kummer und Schmerzen anfühlte. Die Herbstsonne schien auf die Platanenblätter und zeichnete helldunkle Muster auf Erde und Mauern. Das Bächlein, an dem ich entlangging, lief wie ein kleiner Junge murmelnd neben seiner Mutter her. Ich spürte, wie mir jemand auf Schritt und Tritt folgte und leise nach mir rief, leise wie ein Seufzer. War es Almass? Mitten im Wasser? Ich sah Gespenster. Ich träumte mit offenen Augen. Müßig schlenderte ich weiter.
Nach und nach belebte sich die ruhige Straße. Alle und alles waren auf ihr zugange, nur mein Almass nicht. Vom Alborz-Gebirge wehte eine kühle Brise, die den Herbst ankündigte. Wie gern hätte ich mich in der Herbstsonne unter diese Platanen an den Bach gesetzt und die Bäume angestarrt, damit meine Augen sich entspannen konnten. Damit meine müden Beine sich erholen konnten. Damit Kummer und Schmerzen von mir abfielen. Damit die Welt zu Ende ging. Tatsächlich lag in dieser ruhigen Straße, im Fließen dieses Bachs und in Licht und Schatten der Platanenblätter, die in der herbstlichen Sonne leuchteten, eine Ruhe, die mich besänftigte und an ein heiteres und sorgenloses Leben erinnerte. An das Lehnen an ein Rückenkissen neben einem Schiebefenster, das hochgeschobenworden war. An das Dösen in der Sonne, die sich im Zimmer ausbreitete und einem auf den Rücken schien. Da ich nicht wollte, daß diese Empfindungen vorübergingen, verlangsamte ich meinen Schritt, um später zu Hause anzukommen.
Ich betrat das Haus und schritt durch den Korridor in den Hof. Wie gewöhnlich bemühte ich mich, nicht nach links zu sehen. Dorthin, wo mein Sohn vor einigen Monaten neben einem Schneehaufen unter einem weißen Laken gelegen hatte. Aber es war nicht nötig, da die widerliche Gestalt meiner Schwiegermutter, die vor dem Korridor im Hof stand, meinen Blick auf sich zog. Sie stand da und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Wo warst du?«
»Draußen.«
Ich straffte mich und versuchte, an ihr vorbeizugehen. »Ich hatte gesagt,
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