Der Morgen der Trunkenheit
hätte er mich seit Jahren nicht mehr gesehen, »Du bist abgemagert, Mahbub. Du hast dich verändert. Deine Wangen sind nicht mehr rundlich. Wie schmal dein Gesicht geworden ist. Deine Augen sind größer geworden. Dein Blick ist nicht mehr verspielt.«
»Bin ich häßlich geworden?«
»Nein, Mahbub Djan. Du bist eine Frau geworden, eine Dame.«
Als er morgens zur Arbeit gehen wollte, rief er nach seiner Mutter und sagte so laut, daß ich es im Zimmer mit Leichtigkeit hören konnte, »Nanneh, Mahbub kann gehen, wohin es ihr gefällt. Daß mir nicht noch einmal zu Ohren kommt, du hättest sie abgehalten.«
Was für Tage das waren! Tage, in denen ich vor Kummer über den Tod meines Sohns und durch die wieder entflammte Liebe meines Ehemanns aufgewühlt und trunken war. Tage der Bitterkeit und Süße und Nächte der mystischen Versenkung.
Rahim war seitdem mittags nicht mehr im Geschäft geblieben. Abends bei Anbruch der Dämmerung kam er nach Hause. Sein Atem roch nicht mehr nach Alkohol. Er trat nicht mehr die Hacken seiner Schuhe herunter. Sein Anzug war sauber und ordentlich. Die Amme kam und brachte das Geld. Ich legte es in die Wandnische, und Rahim rührte es nicht an. Als wäre es Feuer, an dem er sich die Hand verbrennen würde. Als wäre es eine Schlange, die ihn beißen würde. Seine Mutter sah ihn scheel an, biß sich vor Bedauern auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Tagsüber, wenn er nicht zu Hause war, knurrte sie, »Sie hat ihn verhext.« Oder, »Nun hat sie ihre Ruhe. Tag und Nacht klebt er an ihr.«
Ich tat, als hörte ich nicht. Für mich spielte es keine Rolle mehr. Wenn Rahim auf diese Einflüsterungen nicht reagierte, wovor sollte ich mich dann fürchten? Mußte man sich etwa mit dem pfeifenden Wind herumzanken? Stritt man etwa mit dem grollenden Sturm? Nein, man mußte abwarten. Man mußte die Fenster schließen undsich in die Umarmung des Liebsten flüchten, in Rahims Umarmung.
Die Amme kam. Ich ging mit ihr auf die Lalehzar zu einer armenischen Frau, die die Hochzeitskleider meiner Schwestern genäht hatte. Ich beauftragte sie, mir ein Taftkleid zu nähen. Aus fließendem blauem Taft mit weißem Umlegekragen und winzigen Perlmuttknöpfen. Während sie mir das Kleid anprobierte, sagte sie in ihrem reizenden armenischen Dialekt, »Was für einen schönen Körper du hast! Dein Ehemann hat Glück gehabt. Er sollte dich sehr schätzen. An seiner Stelle würde ich dich keinen Augenblick aus den Augen lassen.«
Erstmals nach langer Zeit lachte ich wieder lauthals. Meine Amme freute sich. Ich kaufte mir hochhackige Schuhe und Parfüm. Haarschmuck und Ohrringe. Lippenstift und Schminke, und all das für die Nächte, für den Anbruch der Dämmerung, für den Augenblick, an dem Rahim nach Hause kam. Falls Gott einem gütig gesonnen war, falls es ein Paradies auf Erden geben und Glückseligkeit eine Bedeutung haben sollte, so war es nichts anderes als Liebe und der Friede eines Ehepaars, das unter einem Dach lebte. Nichts anderes als die Sehnsucht einer Frau, die in Erwartung der Rückkehr ihres Ehemanns die Stunden zählte. Nichts anderes als die Ungeduld eines Mannes, der zu seiner gepflegten Frau nach Hause eilte, von der er wußte, daß sie sehnsüchtig und ungeduldig auf die Tür starrend neben einem Samowar saß, dessen Wasser sprudelte, und neben einem Speisetuch, auf dem das Abendbrot gedeckt war. Eine Frau, die ein liebliches Lächeln und sanfte Hände besaß.
Der erste Herbstmonat war vergangen und der November angebrochen. Abends brachte Rahim Geld heim und legte es in die Wandnische. Er brachte Obst mit. Stets kehrte er mit vollen Händen nach Hause zurück. Mir war klar, daß er allmählich älter wurde. Er ging auf die dreißig zu. Er war zur Besinnung gekommen. Er war gereift und vernünftig geworden. Er war auf den rechten Weg zurückgekehrt. Obwohl der zweite Herbstmonat begonnen hatte, war die Luft noch nicht sehr kühl. Die gelben und roten Blätter der Platanen in der herbstlichen Sonne versetzten einen in Entzücken. Oder vielleicht hatte mein Herz sich verjüngt. Es hatte sich besänftigt und war voller Hoffnung.
Eines Abends traf Rahim müde ein, setzte sich erschöpft undtrank Tee, »Großartig, Mahbub Djan. Wie hübsch du geworden bist.«
»War ich vorher nicht hübsch?«
»Du bist noch hübscher geworden.«
Er küßte mich und setzte sich in eine Ecke, war jedoch in Gedanken versunken. Ich fragte, »Rahim Djan, soll ich das Abendbrot bringen?«
Er brummelte
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