Der Morgen der Trunkenheit
von fünfzig Jahren durchlitten hatte. Ich dachte, ich wäre beim Tod meines Sohns ebenfalls gestorben. Ich war wie eine Tote, die sich verwundert zusah, wie sie trotzdem atmete. Wie ich umherging, aß, schlief und wieder erwachte. Ich wußte nicht, wie lange noch? Und das war das Schmerzhafte daran. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß sich in meiner Brust je wieder das Verlangen nach der Umarmung meines Ehemanns rühren würde. Doch so geschah es.
Mitternacht war vorbei. Wir waren wach, hatten uns nebeneinander ausgestreckt. Diesmal hielt er meine Hand in seiner Hand und die Zigarette in der anderen, anders als in anderen Nächten, in denen er einschlief, sobald er sich neben mich legte. Wie sehr ich dieses Schweigen und diese Ruhe liebte. Wir starrten beide an die Decke. Ich sah nur seine Augen glänzen und die rötlich glühende Zigarettenspitze.
Während er an die Decke starrte, wehte seine Stimme sanft wie eine Brise durch das Zimmer, »Ich dachte, du liebst mich nicht mehr.«
Ebenso sanft erwiderte ich, »Du liebst mich nicht.«
Er lächelte und drückte meine Hand. Ich spürte seine Atemzüge an meinem Hals. Vor lauter Liebe und Entzücken schossen mir die Tränen hervor. Wie konnte der Besitzer eines solchen Gesichts gemein sein? Ich irrte. Ich war schlecht. Ich dachte nur an mich. Was hatte ich bloß getan, daß er dachte, ich würde ihn nicht mehr lieben? Es schien, als könnte er Gedanken lesen. »Damals, als du dir das Kind hast wegmachen lassen, sagte ich mir, daß du mich wahrscheinlich nicht mehr ausstehen kannst. Ich hab mich gefürchtet. Dauernd hab ich gefürchtet, du würdest unter dem Vorwand, ins Hammam zu wollen, wieder fortgehen und nicht mehr zurückkehren.«
Ich sagte »Rahim!…«, doch meine Tränen ließen mich nicht zu Wort kommen.
Er drückte die Zigarette in dem Aschenbecher neben sich aus und drehte sich zu mir um. Er stützte seinen Kopf auf die linke Hand. Er hatte sich über mein Gesicht gebeugt und musterte mich in der Dunkelheit. Mit den Fingern seiner rechten Hand wischte er mir die Tränen weg und sagte wie jemand, der zu einem Kind spricht, »Na, na, du weinst? Schäm dich was, Mädchen!«
Ich schluchzte und genoß seinen besänftigenden Ton, weinte jedoch um so heftiger. Als wäre ein Damm gebrochen, der meine Tränen zurückgehalten hatte. Die Qualen meines Herzens, die ich niemandem hatte mitteilen können, lösten sich jetzt in Tränen auf und strömten mit ihnen heraus. Seine Liebkosungen rissen den Schorf, der sich über den alten Wunden meines Herzens gebildet hatte, auf und linderten sie auf diese schmerzhafte Weise. Hätte ich in dem Augenblick den letzten Seufzer getan, hätte mich Gott in dieser Nacht zu sich genommen, ich hätte mich nicht beschwert. Nein, sicher nicht. Worüber sollte ich mich noch beschweren? Was wollte ich mehr? Gott schuldete mir doch nichts. Ich sagte, »Quäl mich nicht mehr, Rahim. Ich könnte es nicht mehr ertragen. Ich habe niemanden mehr außer dir. Sei du meine Zuflucht. Steh mir bei.«
Spaßend sagte er, »Was redest du da? Bassir ol-Molks Tochter soll niemanden mehr haben? Wenn du dich einsam und verlassen nennst, wie sollten sich dann andere bezeichnen? Sag das bloß nicht anderswo! Die Leute würden dich auslachen. Der arme Rahim soll der einzige sein für die reiche Mahbube Chanum?«
Seine Demut, und daß er mir zuliebe endlich seine Nichtigkeit eingestanden und meine Überlegenheit anerkannt hatte, rührten mich. Ich empfand Mitleid für ihn. Ich konnte mich nicht ausstehen. Ich schämte mich für mein Verhalten. Ich hielt ihm die Hand vor den Mund und sagte, »Sag das nicht, Rahim. Rede nicht so. Du bist mein ein und alles. Du bist mir wichtiger als alle Schätze der Welt. Ich würde sogar auf einer Strohmatte mit dir leben. Ich bin deine Frau. Du bist mein Gebieter. Laß jeden, der lachen will, aus vollem Herzen lachen. Soll es jedem, dem es mißfällt, doch mißfallen. Da gibt es doch kein du und ich. Was mir gehört, gehört auch dir. Ich hatte dich begehrt. Ich würde sterben, wenn dir nur ein Härchen gekrümmt werden würde. Ich bin stolz auf dich,egal, wie du bist. Ich habe dich begehrt und stehe dazu. Ich bereue nichts.«
»Stimmt das wirklich, Mahbube?«
»Stell mich auf die Probe, Rahim. Tu es.«
»Nicht, Mahbub Djan. Tu dir das nicht an. Ich kann deine Tränen nicht ertragen.«
Wie hatte ich nur diese heißen Küsse vergessen können? Sie schmeckten nach Zigarette. Er sah mich an. Er sagte, als
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