Der Morgen der Trunkenheit
würde. Doch war es, als versuchte ich einen Eisennagel in einen Stein einzuschlagen. Ich wußte, ich würde gehen und mich kopfüber ins Verderben stürzen.
Ich erzähle dir etwas, und du verstehst etwas anderes. Damals war die Verliebtheit eines fünfzehnjährigen Mädchens an sich schon ein Vergehen, das ein Blutbad nach sich ziehen konnte, erst recht, wenn es Briefe schrieb oder die Brautwerber ablehnte. Sich verlieben? Dazu noch in den Schreinerlehrling am Wegesrand? Das war der Gipfel des Unglücks. Zumal für Bassir ol-Molks Tochter. Allein der Gedanke ließ einem das Herz stillstehen und das Blut in den Adern gefrieren. Als ob Wasser aufwärts fließen oder statt Regen Blut vom Himmel fallen würde. Es hieß den Stier bei den Hörnern packen – was ich tat, indem ich schrieb. Endlich schrieb ich die Sehnsucht, die mein Herz erdrückte, nieder. Ich schrieb ihm, was mir beim Lesen seiner Botschaft sofort eingefallen war und was ich ihm mit lauter Stimme vortragen wollte:
Des Herzens Zustand dir erzählen, ist mein Begehr.
Des Herzens Botschaft hören, ist mein Begehr.
Sieh, welch vergeblicher Wunsch: vor den Rivalen
ein offenes Geheimnis zu verbergen, ist mein Begehr.
Ich erinnere mich nicht mehr, welche Vorwände ich erfand, um das Haus zu verlassen. Die Amme mußte sich jetzt um Manuchehr kümmern. Manchmal ging ich zusammen mit Dadde Chanum aus und schickte sie unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, nach Hause zurück. Allerdings wußte ich, daß es ein Weilchen dauerte, bis sie wieder zurückkam. Und manchmal ging ich allein, unterjedem erdenklichen Vorwand. Jedenfalls ging ich außer Haus. An jenem Tag war es wieder zur Zeit der Dämmerung, mein Vater hatte Herrenbesuch, und im Haus waren alle mit ihm und mit Manuchehrs Bauchschmerzen beschäftigt. Ich ging aus.
Er stand zur Ladentür gewandt, hatte seinen Umhang übergezogen und einen Schalbund umgeschlungen. Er war am Gehen. Der Schal war auf der Rückseite gefältelt. Ich sagte mir, wenn das die Amme sähe, würde sie sagen, er gehöre also zu jenen Laffen. Wie gut ihm doch diese Tracht stand, die allmählich außer Mode kam. Die Hände in die Hüften gestemmt, hatte er die Daumen im Schalbund vergraben und sich ein wenig nach hinten gebeugt, als wollte er Schmerz und Müdigkeit des Rückens lindern. Ich stand still da und betrachtete ihn. Ich war gekommen, um die Sache zu Ende zu bringen. Also fürchtete ich mich nicht mehr vor dem Verlust des Ansehens. Ich blickte weder links noch rechts. Sollte doch die Schande offen zu Tage treten. Mein Entschluß stand fest.
Vielleicht hatte sich mein Blick wie ein Pfeil in seinen Rücken gebohrt, denn er blieb in derselben Haltung stehen. Allmählich straffte sich sein Rücken, und plötzlich drehte er sich um. Er vergaß zu grüßen. Wie verzaubert. Leise sagte er: »Bist du endlich gekommen?«
Ich schlug den Gesichtsschleier hoch und sah ihn lächelnd an.
»Weißt du, wie lange du dich schon nicht mehr nach mir erkundigt hast?«
Manchmal duzte und manchmal siezte er mich. Noch genierte er sich vor mir. Ich fühlte mich ihm überlegen. Meine Bosheit erwachte, und ich sagte: »Ich weiß.«
»Wollen Sie mich in den Wahnsinn treiben?«
»Wenn ich wahnsinnig geworden bin, warum nicht auch Sie?«, antwortete ich. Verdutzt starrte er mich an. Er konnte nicht glauben, daß ich so freimütig sprach. Er wußte nicht, was antworten. Ich sagte: »Ich wußte nicht, daß du schreiben kannst.«
Angesichts seiner Scham und Bestürzung war ich kühn geworden, und da ich mich überlegen fühlte, genoß ich es, ihn zu duzen. Leise sagte er: »Ich kann.«
»Wo hast du diese schöne Schrift gelernt?«
»Ich habe sie in Tabriz gelernt. Die ersten zwölf Jahre war ich dort. Mein Vater stammt aus jenem Bezirk. Meine Mutter stammt vom Kaspischen Meer. Wir hatten ein Zimmer bei einem Mullah.Das Alphabet und die Schönschrift hat der mir beigebracht. Ich hatte sechs, sieben Jahre Unterricht bei ihm. Als mein Vater starb, kamen wir nach Teheran. Noch immer übe ich mich in Kalligraphie, wenn ich Zeit habe.«
»Liest du auch Hafis?«
»Nein, aber mein Mullah gab mir das Abschreiben von Hafis’ Gedichten als Hausaufgabe auf.«
»Gehst du nicht mehr zur Schule?«
»Ich würde gern. Ich wollte auf die Dar-ol-Fonun-Schule gehen.«
»Warum bist du dann nicht gegangen?« fragte ich.
»Ich sagte doch, mein Vater ist gestorben. Ich muß für den Unterhalt meiner Mutter aufkommen. Jetzt will ich eine Zeit lang arbeiten.
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