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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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hinter dem Gesichtsschleier auf, um durch das Kutschenfenster jene großen Augen, die auf die Kutsche starrten, und jene Haare, die ihm ungezähmt in die Stirn fielen, möglichst genau zu sehen. Ehe ich mich besinnen konnte, war die Kutsche an dem Laden vorbeigefahren und hatte mich dem Palast meiner Träume entrissen.
    Ganz allmählich kam das Gespräch auf den Hochzeitstermin meiner jüngeren Schwester Chodjasteh, da meine Tante darauf bestand, sie so schnell wie möglich mit ihrem Sohn zu verloben. Meine Mutter verlangte ein, zwei Monate Bedenkzeit. Mein Cousin konnte es nicht erwarten. Er wollte so schnell wie möglich heiraten und Chodjasteh nach Gilan mitnehmen, wo sie viele Ländereien besaßen. Meiner Schwester widerstrebte es, sich von Mutter zu entfernen. Schließlich war sie wirklich noch ein Kind, gerade elf Jahre alt. Der Cousin liebte die Ruhe Gilans, zumal sein Vater in jenem bewaldeten Landstrich geboren war und seine Jugendjahre dort verbracht hatte. Mittlerweile hatten sich seine sämtlichen Onkel und Tanten väterlicherseits mit ihren Kindern in diesem Gebiet niedergelassen.
    Die Tante fragte: »Also wann? Wann wird sich endlich das Schicksal meines Sohnes entscheiden?«
    Meine Mutter antwortete stets: »Liebste Schwester, haben Sie doch etwas Geduld, noch ist Mahbub da.«
    »Nun, vielleicht will Mahbub nicht heiraten. Vielleicht wird ihr niemand gefallen. Selbst wenn der Shah mit seinem gesamten Heer anrückte, wer weiß? Muß denn Chodjasteh für Mahbube büßen?«
    Geduldig und standhaft pflegte meine Mutter sie zu beruhigen: »Nein, Schwesterchen, so ist es auch wieder nicht. Es geht nicht ums Büßen, sondern um den richtigen Zeitpunkt. Wenn Gott will, wird in ein paar Monaten alles geregelt sein. Lassen Sie mich erst einmal vom Kindbett aufstehen, danach.«
    Alle Aufmersamkeit galt meinem Bruder. Ganz allmählich fing meine Mutter an, wieder außer Haus zu gehen, und mich nahm sie mit. Ich nahm es dankbar an. Ich wollte mich von unserem Haus, unserem Viertel und jenem kleinen Laden entfernen, damit der Bann vielleicht gebrochen und ich erlöst werden würde. Vielleicht würde ich die Sehnsucht nach ihm langsam vergessen. Die Sehnsucht nach ihm, dem offenem Hemdkragen und den hochgerollten Ärmeln. Dem ungezähmten Haar. Obwohl das Vorübergehen an dem verräucherten Laden nicht ohne Mühe und Anspannung vonstatten ging, begann die Wunde zu verheilen. Allmählich gelang es mir, meinen Blick von diesem Laden zu wenden, mein Herzklopfen in seiner Nähe unter Kontrolle zu bringen und mich in der Kutsche plötzlich meiner Mutter zuzuwenden und wirres Zeug zu reden. Stets wunderte ich mich, wie es möglich war, daß meine Tollheiten weder den Argwohn meiner Mutter noch den Verdacht der anderen erregten. Ich fühlte mich schuldig, weil ich das Vertrauen meiner Eltern mißbraucht hatte. Das bestärkte mich in der Absicht, das Herz aus seinen Fesseln zu befreien. Doch war es nicht nur das Herz, das sich nach ihm sehnte, sondern jeder einzelne Blutstropfen, jede Handbreit meines Wesens, jede einzelne Zelle. Und der einzige Gegner war mein Kopf, der nichts bewirkte, so sehr er sich auch bemühte. Nichts folgte seinen Befehlen, und dennoch kämpfte ich weiter. Kein Kampf ist furchtbarer. Ich wollte mich bezwingen, doch war mir ein anderes Schicksal beschieden. Eines Tages, bei der Rückkehr vom Haus meiner Tante, wandte sich meine Mutter ausgerechnet in der Nähe von Rahims Laden und genau in dem Augenblick, in dem mein Atem schwerer ging und mir das Herz im Halse schlug, an mich und sagte lachend: »Gestern nacht hat mir Agha Djan eine gute Nachrichtüberbracht.« Und als sie bemerkte, daß ich sie bestürzt anstarrte, fügte sie hinzu: »Für dich hat sich ein guter Bräutigam gefunden. Dein Onkel väterlicherseits will für Mansur um deine Hand anhalten. Er hat zu deinem Papa gesagt: ›Jetzt, wo dir das Glück hold ist, laß es uns auskosten.‹«
    Die Amme, die uns gegenüber saß und Manuchehr im Arm hielt, kicherte: »Prima, ich gratuliere, mein Kind, Mansur ist ein sehr passabler junger Mann.«
    Meine Mutter sagte: »Amme, kümmere dich um das Kind. Halt es gut fest, daß es nicht fällt.«
    »Ah, Chanum, das ist doch nicht das erste Mal, daß ich ein Kind halte. Habe ich etwa die anderen drei fallengelassen, daß ich nun dieses fallenlasse?… Als wäre ich ein Tolpatsch.« Und schmollend lehnte sie sich zurück. Meine Mutter lachte. Ich schmollte ebenfalls, was meine Mutter auf meine

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