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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Taufname war Mehdi, da mein Vater ihn sehr lange ersehnt hatte, aber wir nannten ihn Manuchehr. Noch am Abend wurde sein Name zusammen mit dem Geburtsdatum auf der Rückseite des Koran eingetragen.
    Ich jedoch bekam nichts davon mit. Ich war verwirrt, verrückt. War nur glücklich darüber, daß sich niemand um mich kümmerte. Gott schütze dich, Manuchehr Djan. Über dem Hofbecken hatte man eine Holzbühne errichtet und Musikanten, Tänzerinnen und Sänger geladen. Die gesamte Familie, von den Tanten und Onkeln väterlicher- und mütterlicherseits bis hin zu den Nichten, Neffen, Schwiegersöhnen und -töchtern, war zum Abendessen eingeladen. Es war das Fest zu Ehren von Manuchehrs Geburt und Beschneidung. Mein Vater ließ tatsächlich sieben Tage und Nächte lang feiern. Wohin sollte ich gehen? Wo konnte ich den Brief lesen? Bis zu jenem Augenblick hatte ich nicht darüber nachgedacht, ob er auch lesen und schreiben konnte! Also konnte er, Gott sei Dank. Er war sogar zur Schule gegangen. Vor Furcht, Aufregung und Neugierde zitterte ich am ganzen Körper. Wohin sollte ich gehen? Die Amme stellte sich mir in den Weg und begann sich über Hadj Alis Faulheit auszulassen. Daß er die meisten Tage im Jahr nichts zu tun habe,doch heute, wo er tagsüber das Essen ausgegeben hatte und abends die Einladung meiner Mutter beaufsichtigen sollte, dermaßen geschimpft habe, daß er alle zur Verzweiflung getrieben habe, obwohl ihm seit dem frühen Morgen Dadde Chanum und ein Hauslehrling zur Hand gegangen seien. Überhaupt sei unsere häusliche Ordnung über den Haufen geworfen. Die Freude meines Vaters kannte keine Grenzen.
    Die Amme ging, und ich atmete erleichtert auf. Ich zitterte am ganzen Körper. Ganz vorsichtig ging ich in die Vorratskammer, um meinen Tchador abzulegen. Falls jemand kommen sollte, würde ich sagen, daß ich meine Kleider wechselte. Aber es kam niemand, und ich las den Brief. Auf einem quadratischen Stück Papier hatte er in wunderschöner Schrift geschrieben:
    Mein Herz verlier ich, Ihr Gotteskenner und Weisen,
    Weh mir, wenn dies Geheimnis zum Vorschein kommt.
    Tantchen zog den Brief aus der Schatulle und reichte ihn Sudabeh. Die Schrift war wirklich wunderschön. Doch das Papier war im Laufe der Zeit vergilbt und roch nach Tränen. Plötzlich erhielt der Inhalt dieses antiken Kästchens, dieser verblichene Tand, wie Sudabeh gedacht hatte, als die Tante das Kästchen geöffnet hatte, einen Sinn. Er wurde bedeutungsvoll und enthüllte seinen wahren Wert. Als ob in diesem Kästchen nach all der Zeit noch immer ein blutendes Herz schlüge. Tantchen wiederholte:
    Mein Herz verlier ich, Ihr Gotteskenner und Weisen,
    Weh mir, wenn dies Geheimnis zum Vorschein kommt.
    Also konnte er es ebenfalls nicht mehr aushalten? Gott bewahre, wenn er etwas unternahm, das uns bloßstellte. Also hat er begriffen, daß ich…? Was sollte ich tun? Ich hätte mich ohrfeigen können. Was für eine schöne Schrift er hat. Also beherrscht er auch Kalligraphie. Nun kann ich meinem Vater sagen, er sei Kalligraph. Doch was ist mit dem Schreinerladen? Abgesehen davon ist er dort nur Lehrling… Ich gehe hin und haue ihm den Brief um die Ohren. Sage, schäm dich, untersteh dich, mich zu belästigen, untersteh dich, mich weiterhin mit Inbrunst zu mustern, untersteh dich, mir weiter unerwünschte Briefe zu schreiben. Doch was war, wenn ersagte, ich habe diesen Brief nicht Ihnen geschrieben? Er trägt keinen Namen und keinen Adressaten. Vielleicht war er gar nicht für mich bestimmt! Konnte es sein, daß er eine andere im Sinn hatte? Warum hatte ich mich nicht umgedreht? Vielleicht war ein anderes Mädchen oder eine Frau hinter mir hergegangen. Warum habe ich mich so entwürdigt? Ich werde hingehen und ihm den Brief ins Gesicht knallen.
    Doch statt dessen hob ich das wertlose und zerknüllte Stück Papier an die Lippen und küßte die Zeilen. Ich, Bassir ol-Molks Tochter. Asche über mein Haupt! Wenn ich mir doch bloß ein Bein brechen, wenn ich doch bloß nicht mehr zu seinem Laden gehen würde! Ich werde ihn nicht mehr besuchen, es reicht.
    Zwei Wochen lang verließ ich nicht das Haus, und wenn, dann nur mit der Kutsche. Wenn sie an seinem Laden vorbeifuhr, sah ich vor mir seine Augen, die auf der Suche nach mir die Kutschenwände durchbrachen, um mich zu sehen. Er wußte nicht, wer in der Kutsche saß, ob ich es war, meine Schwester oder meine Amme, die eine Nachricht überbrachte. Doch wenn ich in der Kutsche saß, riß ich die Augen

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