Der Morgen der Trunkenheit
du dort verloren? Wie bist du dahin gekommen? Wie hast du diesen… diesen… Kerl in jenem Loch gefunden?«
Sie war nicht einmal bereit, seinen Namen zu erwähnen. Oder ihn gar einen jungen Mann, Jüngling oder zumindest Menschen zu nennen.
»Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist. Vielleicht war das Kismet?«
»Geh, schäm dich. Sogar dem Sohn der Amme geht es besser als dem da. Der hat sich zumindest ein Lädchen im Basar gekauft. Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl, Mädchen? Willst du dich selbst ins Verderben stürzen? Zum Gespött der Leute werden? Papas Ansehen ruinieren? Unser aller Ansehen ruinieren? Die Frau eines Schreinerlehrlings willst du werden?«
Sofort merkte ich, daß sie sich mehr vor dem Verlust ihres Ansehens bei ihrem Ehemann, seiner Familie und ihren Gleichaltrigen fürchtete als vor Papas Gesichtsverlust. Obwohl sie recht hatte, wurde ich plötzlich schrecklich wütend. Schließlich fürchtete ich mich nicht mehr vor dieser rundlichen Schwester, die nur zwei Jahre älter war. Bevor sie heiratete, hatten wir wöchentlich ein, zwei Mal Streit, gerieten uns in die Haare und hätten uns, wenn die Amme oder Mama nicht gewesen wären, in Stücke gerissen. Allerdings versöhntenwir uns ebenso schnell, wie wir uns stritten. Wir mochten uns wirklich. Ich schüttete ihr stets mein Herz aus, und sie in ihrer kindlich-jugendlichen Welt versuchte, soweit ihr Verstand reichte, mir zu helfen.
»Sieh mal, Nozhat, es liegt doch nicht in unserer Hand, wenn wir uns verlieben. Ich kenne all diese Worte besser als du. Ich habe alles bedacht. Außerdem hat er mir gesagt, er wolle zum Militär. Daran ist doch nichts Schlechtes. Wenn Agha Djan ihm hilft, kann er es zu etwas bringen. Sag es doch um Gottes willen Mama und Papa. Andernfalls schlucke ich Opium und bringe mich um.«
Ich hatte so entschieden gesprochen, daß sie mir sofort glaubte. Und ich war ebenfalls überzeugt davon, daß ich es tun würde. Leise sagte sie, »Selbst wenn du dich nicht selber umbringst, Papa würde es tun, wenn er davon erführe.«
»Soll er doch, in Teufels Namen. Dann bin ich erlöst. Ich will Mansur nicht. Ich will keinen anderen. Besser, ich sterbe. Überhaupt, wenn du es nicht sagst, sag ich es selber.«
Ich gab mir einen Ruck, um aufzustehen. Erneut packte sie meine Hand. Jetzt war ihre Hand eiskalt, und meine war kochend heiß.
»Setz dich. Laß mich meine Gedanken sammeln, Mädchen. Laß diese Fisimatenten. Komm, sei vernünftig.«
Je mehr sie mir gut zuriet, desto widerspenstiger wurde ich. Sie stieß auf taube Ohren. Nur ihn begehrte ich, ihn. Nur einen Gott gibt es und nur diesen einen Mann. Streitsüchtig erwiderte ich, »Da war ich nun gekommen, damit du mir beistehst und zwischen uns vermittelst. Wenn du es ihnen nicht sagen willst, laß es bleiben. Wovor fürchtest du dich? Dir werden sie doch nichts anhaben! Sie wollen mich umbringen? Sollen sie doch, geschenkt! Außerdem, was ist schon Schlimmes passiert? Ich weiß, du findest keine Lösung. Ich bin ja nicht gekommen, mir Predigten anzuhören. Ich werde mir schon selbst etwas einfallen lassen.«
Zu guter Letzt willigte meine Schwester widerstrebend ein. Das Tuch für das Mittagessen wurde auf dem Teppich ausgebreitet. Mein Schwager betrat das Andaruni . Ich hüllte mich in meinen weißen, geblümten Tchador und nahm mit gesenktem Kopf Platz. Der Mittagstisch war mit Sauerkirschenreis, Auberginenmolke, sauer Eingelegtem, Joghurt und Ayran farbig geschmückt, doch ich hattekeinen Appetit. Ich kostete von meinem Essen und war satt. Ich überlegte, welche Meinung wohl mein liebenswürdiger Schwager, der gerade mit mir herumscherzte und mich neckte, von mir haben würde, wenn er wüßte, daß ich mich in den Schreiner Rahim verliebt hatte. Ich zitterte am ganzen Leib. Auch meine Schwester versuchte Haltung zu bewahren.
Mein Schwager fragte, »Mahbube Chanum, warum essen Sie nichts? Wollen Sie, daß Ihr Agha Djan davon reich wird? Es scheint, als ginge es Ihnen nicht gut!« Dann wandte er sich an seine Ehefrau und fügte hinzu, »Nozhat Djan, du bist heute ebenfalls nicht gut aufgelegt. Was ist denn passiert?«
Meine Schwester lächelte ihren 35jährigen Ehemann süß an und sagte sorgenvoll und geziert, »Nichts ist passiert, es scheint nur, als ginge es Chanum Djan nicht so gut.«
Mein Schwager, der von ihrer Leibesfülle betört und begeistert war, wandte sich mit gespielter Sorge an seine siebzehnjährige, vom Glück verwöhnte Ehefrau, »Gott
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