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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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ist doch nicht etwa Kazem Chan, Hadj Nasrollahs Sohn, oder? Der rundliche, lustige.«
    Kazem war der etwa achtzehnjährige Sohn Hadj Nasrollahs, des Freundes meines Vaters aus Kindertagen. Von Zeit zu Zeit kam er mit seinem Vater in das Biruni zu meinem Vater. Er besaß ein anziehendes und einnehmendes Gesicht, und sein Vater hatte meinem gesagt, daß sich die Frauen trotz seiner übermäßigen Leibesfülle nach ihm verzehrten. Sie behaupteten, er sei apart. Er hatte gesagt, ›Ich weiß ja nicht, wie, vielleicht besitzt der Teufelsbraten einen Liebestalisman.‹ Wir lachten meistens über diese Lobrede des Vaters auf den Sohn. Hadj Nasrollah besaß keine großen Güter, war jedoch ein fleißiger und rechtschaffener Mann, der im Basar eine Ladenzelle hatte und dort Handel trieb. Wie die Alten zu sagen pflegten, lebte er von der Hand in den Mund. Ein blasses, schmerzerfülltes Lächeln erschien auf den Lippen meiner Schwester. Klagend erwiderte ich, »Nein, Schwesterchen, wenn er’s doch wäre. Hadj Nasrollah ist doch ein geachteter Mann.«
    Diese Worte waren mir unwillkürlich entfahren. Meine Schwester richtete sich halb auf ihren Knien auf. »Willst du damit sagen, sein Vater ist ein Unwürdiger. O Gott, laß mich sterben. Du bringst mich noch um, Mädchen. Nun sag’s schon endlich und erlöse mich.«
    Nun war es so weit. Es gab keinen Weg zurück. Ich hatte es ausgesprochen. Der Pfeil war von der Sehne geschnellt und kehrte nicht mehr zurück. Wäre ich doch bloß stumm geworden, hätte ich es doch nicht gesagt. Gleich würde diese Frau umfallen. »Ist nichts, Schwesterchen, laß schon.«
    Kaum wollte ich aufstehen, packte sie mich am Handgelenk, »Was heißt hier, laß schon? Wo gehst du hin? Setz dich gefälligst. Sag, was du ausgefressen hast. Sag, wer ist dieser Mensch?«
    Ich setzte mich. Lautlos fielen meine Tränen, »Ich kann es nicht sagen.«
    »Mahbube, du bringst mich um. Gleich bleibt mir das Herz stehen. Heul nicht herum. Sag mir, wer es ist. Hat er dir selbst gesagt, daß er dich begehrt?«
    »Ja, Schwesterchen.«
    Meine Schwester grub sich die Nägel ins Gesicht, »Dann habt ihr euch also schon besprochen? Und seid euch auch schon einig?« Ich schwieg und starrte sie an. »Nun sag’s schon, Mädchen, sag endlich, wo hast du ihn gefunden? Sag mir, was in aller Welt ich tun soll. Sagst du es jetzt endlich?«
    Ich werde es sagen. Man stirbt nur einmal. Ich sagte, »Doch, ich werde es sagen…« Ich schwieg und fuhr dann langsam fort, »Du kennst doch die Schreinerei auf dem Weg zu uns?«
    Meine Schwester hatte mein Handgelenk gepackt und preßte es. Halb aufgerichtet hockte sie auf ihren Knien und sah mich an. Sie war ganz Auge und Ohr. Die einzige Bewegung, die ich an ihr entdecken konnte, waren die sich weitenden Augen. Fragend, voller Entsetzen. Kaum brachte sie heraus, »Und?!«
    »Der Schreinerlehrling, der dort arbeitet. Er heißt Rahim.«
    Die Erwähnung seines Namens erfüllte mich mit Ruhe. Endlich hatte ich dieses drückende Geheimnis jemandem mitteilen können. Hatte die Last einer anderen aufgebürdet. Als sei ich befreit. Und wie sehr ich Rahim begehrte. Meine Schwester fragte wie schlaftrunken, »Wer?« Ohne weitere Erklärung starrte ich ihr in die Augen. Allmählich begriff sie die Bedeutung meiner Worte. Sie bemühte sich zu atmen. Es ging nicht. Ihr Mund öffnete und schloß sich zwei, drei Mal. Wie die Fische im Becken. Dann sagte sie, »O Gott, laß mich sterben. Mädchen, bist du verrückt geworden?«
    »Nein, Nozhat Djan, ich bin nicht verrückt geworden. Sag es bitte Papa, um Gottes willen. Sag es Mama. Ich will keinen anderen…«
    »Einen Teufel werde ich tun. Willst du, daß Papa tot umfällt? Und Mama wird eingehen vor Kummer. Die Milch wird ihr versiegen.«
    Mir erschien es nicht mehr schwierig. Ich hatte die Furcht verloren. Wieder grub sich meine Schwester die Nägel ins Gesicht. Ihr fülliger Körper lehnte sich vor, sie schlug sich mit der linken Hand heftig aufs Knie und verharrte eine Minute lang in dieser Haltung. Dann hob sie verwirrt und betäubt den Kopf. Als hätte sie meine Worte überhaupt nicht gehört. Oder falsch verstanden. Wie nicht von dieser Welt fragte sie, »Welche Schreinerei meinst du? Die, die der Flickschusterei der Geister gleicht? Die, die dem verräucherten Grab an der Biegung der Gasse gleicht? Die, deren Inneres dunkel ist und aus der nur schnarrende Geräusche kommen?«
    »Ja, das ist sie.«
    Verwundert fragte sie, »Mädchen, was hattest

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