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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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Hustenanfall.

 

    3.
    Ich bemühe mich immer, von den Leuten in meinem Revier etwas zu lernen, und während ich nun losfuhr, überlegte ich, ob es sich gelohnt hatte, Wimpys Geschwätz zu ertragen. An sich kannte ich dieses Geseire ja schon von vielen tausend Giftlern. Und dann fiel mir die Sache mit der Hämorrhoidensalbe ein, mit der er seine Einstichstellen behandelte, damit sie nicht so groß wurden. Das war immerhin etwas Neues. Davon hatte ich bisher noch nie gehört. Deshalb versuche ich den Anfängern auch immer klarzumachen, daß sie den Mund halten und die Ohren aufsperren sollen. Diese jungen Burschen rücken bei so einem Verhör oft mehr Informationen heraus, als sie ihrerseits bekommen. Selbst von so einem Wrack wie Wimpy kann man etwas lernen, wenn man ihm nur eine Gelegenheit dazu gibt.
    Ich sah auf meine Uhr, da ich langsam hungrig wurde. Eigentlich bin ich immer hungrig, oder besser – ich könnte ständig essen. Aber ich nehme zwischen den Mahlzeiten nichts zu mir und halte mich an fixe Essenszeiten, soweit mir das meine Arbeit erlaubt. Ich bin ein Gewohnheitstier und halte viel von Routine. Wenn man sich in kleinen Dingen Regeln aufstellt – Regeln, die man sich selbst gemacht hat – und wenn man sich an diese Regeln hält, bringt man Ordnung in sein Leben. Ich ändere meine Gewohnheiten nur, wenn es notwendig ist.
    Einer der Beamten von der Tagschicht, ein junger Kerl namens Wilson, fuhr in seinem Schwarzweißen vorbei, ohne mich zu bemerken, da er einen Junkie beobachtete, der gerade über den Broadway in den überfüllten Grand Central Market huschte – wahrscheinlich, um dort ein Geschäft abzuwickeln. Der Bursche hatte es ganz schön eilig, als hätte er ein paar Beutel Goldstaub in den Taschen seiner Jeans. Wilson war ein tüchtiger, junger Polizist. Aber wenn ich ihn mir manchmal so wie eben ansah – von der Seite her – und er gerade irgendwoanders hinsah, erinnerten mich diese Haarsträhne und seine Kindernase und noch irgend etwas, von dem ich jedoch nicht hätte sagen können, was es eigentlich war, an irgend jemand anderen. Das hatte mich eine ganze Weile beschäftigt, bis es mir eines Nachts letzte Woche – ich dachte gerade über meine bevorstehende Heirat mit Cassie nach – plötzlich klargeworden war. Er erinnerte mich ein bißchen an Billy. Doch diesen Gedanken verdrängte ich schleunigst, da ich grundsätzlich nicht an tote Kinder und überhaupt tote Menschen denke. Das ist eine weitere von meinen Grundregeln. Dafür fing ich jedoch an, an Billys Mutter zu denken und wie übel meine erste Ehe verlaufen war und ob sich alles anders entwickelt hätte, wenn Billy am Leben geblieben wäre. Und ich sagte mir, daß die Ehe vielleicht noch heute bestünde, wenn Billy nicht gestorben wäre.
    Als nächstes dachte ich darüber nach, wie viele unglückliche Ehen, die während des Krieges ihren Anfang genommen hatten, sich wohl noch zum Guten gewendet hatten. Aber es war nicht nur das – da war noch etwas anderes, das Sterben. Fast hätte ich Cruz Segovia die ganze Geschichte einmal erzählt, als wir noch Partner und gerade während einer einsamen Frühschicht um drei Uhr morgens unterwegs waren – wie meine Eltern gestorben waren, wie sich dann mein Bruder um mich gekümmert hatte und ebenfalls gestorben war, wie mein Sohn gestorben war und wie ich Cruz bewunderte und beneidete, weil er eine Frau und all diese Kinder hatte und ihnen sein ganzes Leben so vorbehaltlos widmete. Aus irgendeinem Grund sprach ich dann doch nicht davon, und als schließlich Esteban, sein ältester Sohn, in Vietnam fiel, beobachtete ich mit den anderen Cruz' Reaktion. Und auch nach diesem herzzerreißenden, leidvollen Verlust sollte sich an seiner liebevollen Hingabe an seine Familie nichts ändern. Aber ich beneidete ihn danach nicht mehr. Ich machte mir zwar meine Gedanken darüber, aber ich beneidete ihn nicht mehr. Und ich könnte auch jetzt noch nicht sagen, was ich davon halte.
    Während ich nun diesen müßigen Gedanken nachhing, begann sich in meinem Bauch langsam eine Luftblase zu bilden, und ich konnte mir richtig vorstellen, wie sie größer und größer wurde. Ich steckte mir einen Luftblasenkiller in den Mund, zerkaute ihn und schluckte ihn hinunter. Und dann entschied ich, lieber an Frauen oder Essen oder sonst irgend etwas Angenehmes zu denken. Ich erhob mich leicht von meinem Sitz, furzte, sagte: »Guten Morgen, Euer Ehren«, und fühlte mich gleich wesentlich

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