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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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viele seiner zukünftigen Taten wohl noch blutig enden würden. Vielleicht war er es auch gewesen, der diese schwarze Prostituierte auf dem Gewissen hatte, die sie letzten Monat unter einem Haufen Bauschutt in der Seventh Street gefunden hatten.
    Man darf vor diesem aggressiven Potential nicht die Augen verschließen, und man darf es nicht als harmlos abtun. Die Richterin spürte diese Energie ganz offensichtlich, und nachdem sie eine Herabsetzung der Kaution abgelehnt hatte, bedachte der Angeklagte sie mit einem von Charme sprühenden, jungenhaften Lächeln, während sie sich von ihm abwandte, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Dann drehte er sich zu seiner weinenden Frau um und grinste sie an. Plötzlich merkte er, daß ich ihn beobachtete. Er wandte sich mir zu, und wir sahen uns in die Augen. Und diesmal lächelte ich, und mein Blick sagte: Deine Sorte kenne ich – sehr gut sogar. Er blickte mich ein paar Sekunden ruhig an, und dann führte ihn der Gerichtsdiener aus dem Saal. Nun, da ich wußte, daß sich dieser Bursche in der Innenstadt herumtrieb, würde ich in meinem Revier ein Auge auf ihn werfen.
    Die Richterin verließ ihren Platz, und der Assistent des Staatsanwalts, ein junger Kerl mit einem Schnurrbart und Koteletten, die irgendwie nicht zu ihm paßten, begann die Anklageschrift zu verlesen, um zu meinem Fall übergehen zu können.
    Timothy Landry, mein Angeklagter, wurde von einem Hilfssheriff in den Saal geführt. Er war ein hagerer Kerl, vierundvierzig Jahre alt, mit langem, schwarz gefärbtem Haar, das vermutlich schon ziemlich grau war, und jenem fahlen Gesicht, das bei manchen Typen nie mehr seine normale, gesunde Farbe anzunehmen scheint, nachdem sie einmal gesessen haben. Die Zeit, die er im Knast verbracht hatte, war ihm auf den ersten Blick anzusehen. Er hatte hauptsächlich in Western ein paar kleinere Rollen gespielt, und das war vor ein paar Jahren gewesen, als er gerade aus Folsom entlassen worden war.
    Der junge Staatsanwalt wandte sich an mich. »Fangen wir also an, Officer. Wo ist der Detective, der die Ermittlungen zu dem Fall geleitet hat?«
    »Der wird gerade bei einer anderen Verhandlung gebraucht. Ich bin Morgan – der Beamte, der ihn verhaftet hat. Ich werde das Ganze schon allein schaffen. Soweit ich das sehe, dürfte es in der Angelegenheit keine nennenswerten Probleme geben.«
    Er stand vermutlich erst seit ein paar Monaten im Berufsleben. In der Regel betrauen sie die jungen Staatsanwälte immer mit den Vorverhandlungen, damit sie langsam mit dem Gerichtsalltag vertraut werden. Diesen hatte ich noch nie zuvor gesehen, obwohl ich sehr häufig vor Gericht aussagen mußte, da ich so viele Ganoven verhaftet hatte. Daraus schloß ich, daß er höchstens ein paar Monate Berufspraxis hatte.
    »Wo ist der andere Zeuge?« fragte der Staatsanwalt. Daraufhin blickte ich mich zum erstenmal im Gerichtssaal um und entdeckte Homer Downey. Beinahe hätte ich vergessen, daß er im Zusammenhang mit diesem Fall ebenfalls eine Vorladung erhalten hatte. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, herauszufinden, ob er auch wußte, was er aussagen sollte, weil er innerhalb des Ganzen eine so unbedeutende Rolle spielte, daß er eigentlich überflüssig war. Er diente praktisch nur als Erklärung dafür, daß ich mit einem Haftbefehl in das Hotelzimmer eingedrungen war.
    »Das werden wir dann schon sehen«, murmelte der Staatsanwalt, nachdem er ein paar Minuten mit Downey gesprochen hatte. Dann setzte er sich an seinen Tisch, um die Anklageschrift durchzulesen. Der Verteidiger sah aus wie ein Sportler, während der Staatsanwalt, der eigentlich einen Law-and-order-Typen verkörpern sollte, auf lässig-intellektuell getrimmt war. Er trug sogar eine runde Nickelbrille.
    »Ist Downey der Geschäftsführer des Hotels?«
    »Genau«, bestätigte ich, während der Staatsanwalt meinen Verhaftungsbericht las.
    »Am 31. Januar sind Sie im Rahmen einer Routineüberprüfung ins Hotel Orchid in der East Sixth Street gegangen, Nummer achthundertsiebenundzwanzig?«
    »Richtig. Ich habe in der Vorhalle nachgesehen, ob dort auch keine Penner und Säufer rumhingen. Zwei solche Burschen schliefen dort gerade ihren Rausch aus, und ich weckte sie auf, um sie auf die Wache bringen zu lassen, als plötzlich einer von ihnen die Treppe raufrannte. Ich dachte, das kann kein normaler Säufer sein, und so wies ich den anderen an, sich nicht von der Stelle zu rühren, und lief dem ersten nach. Im zweiten Stock raste

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