Der Müllmann
silbernen Rahmen auf dem
Nachttisch stehend gefunden hatte. Es war schwarzweiß und zeigte eine junge
Frau und einen lächelnden jungen Mann vor einem See. Zürich. 1942, stand
hintendrauf. Sie konnten damals beide kaum älter als zwanzig gewesen sein. Wahrscheinlich
jünger, damals sah ja jeder älter aus. Siebzehn. Wenn sie jetzt sechsundachtzig
ist, dann war sie damals siebzehn gewesen.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so lange kannten«, sagte ich
leise.
»Sie wissen vieles nicht, Heinrich«, sagte sie mit belegter Stimme
und lächelte etwas mühsam, während ihr eine Träne über die Wange lief. »Danke«,
sagte sie noch mal. »Entschuldigen Sie mich?«
Ich nickte nur, und sie schloss langsam die Tür.
1942. Das waren neunundsechzig Jahre. Eine lange Zeit für ein
Geheimnis, dachte ich, als ich rüberging und aufschloss.
Es war ruhig im Haus. Zu ruhig. Captain Jack strich mir um die
Beine. Ich räumte die Küche auf, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und
trank einen Schluck, bevor ich es wieder wegschüttete.
Unten im Büro kümmerte ich mich ums Geschäft, konnte mich aber kaum
konzentrieren. Marietta. Frau Hauptkommissarin Marietta Steiler.
Verdammt. Heinrich, du bist ein Idiot.
Brockhaus
hatte mich daran erinnert, dass ich ihm etwas versprochen hatte. Es war jetzt
wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um mich darum zu kümmern, aber ich
konnte es auch nicht immer weiter hinausschieben. Ich wusste zwar nicht, was er
mit der Frau zu tun hatte, aber so wie es aussah, hatte er leider recht. Wenn
ich zu lange wartete, konnte es sie umbringen.
Sie wohnte
in Hanau, das war im Prinzip um die Ecke, und sie hatte ein Problem. Ihren
Mann. Er hatte sie schon viermal krankenhausreif geschlagen, ansonsten hatte
sie in den letzten vier Jahren eine Menge »Unfälle« gehabt. Sie musste schon
ziemlich ungeschickt sein, um viermal hintereinander gegen dieselbe Tür zu
laufen.
Sie hatte sogar Anzeige gegen ihren Mann erstattet, sie aber dann
doch zurückgezogen. Zwei Tage später war sie dann wieder im Krankenhaus
gewesen. Das Sozialamt hatte sie auch schon besucht, aber angeblich wäre alles
in Ordnung gewesen.
Ich konnte verstehen, dass man nicht nachgehakt hatte. Die Leute
hatten genug mit denen zu tun, die um Hilfe baten, da konnten sie nicht auch
noch Detektivarbeit leisten.
Dabei war es gar nicht so schwer. Ein Hoch auf die EDV. Früher war
es schwieriger gewesen, an Informationen zu kommen, heute gab es dafür den
gläsernen Bürger. Jedenfalls für Leute wie Brockhaus. Er hatte kein Problem
damit, mir alle Informationen zu besorgen, die ich brauchte, ob es nun Adressen
für Autokennzeichen waren, Führerscheinanträge oder, wie in diesem Fall,
elektronische Akten aus den drei Krankenhäusern, in denen die Frau schon
behandelt worden war. Mittlerweile lagen mir sogar die Akten von zwei
Hausärzten vor.
Wie Ludwig mir mal sagte, war es seine Art, gegen den
Überwachungsstaat zu protestieren. »Sie zwingen Leute wie mich geradezu dazu,
kriminell zu werden«, hatte er mir einmal erklärt. »Abgesehen davon, dürfen sie
sich nicht beschweren, angeblich existiert der größte Teil der Daten ja gar
nicht.«
Annabelle Richter hieß sie. Sie hatte Germanistik studiert, bis vor
vier Jahren war sie als Journalistin tätig gewesen. Dann aber lief alles aus
dem Ruder, der Grund dafür war niemand anderes als ihr mieser Göttergatte.
Wie eine so intelligente junge Frau nur in eine solche Lage geraten
konnte? Warum sie den Kerl nicht einfach verließ? Ich wusste mittlerweile, wie
es ist, wenn man meint, in einem Ozean zu ertrinken, der in Wahrheit nur eine
Pfütze ist. Man wird eingefangen, auch geistig, sieht nicht mehr das, was
offensichtlich sein sollte, sondern nur noch die einengenden Mauern. Bis man
keinen Ausweg mehr weiß, weil man die Türen nicht mehr sieht.
Aber Frau Richter hatte jetzt einen Ausweg gefunden. Sie suchte
jemanden, der ihr das Problem löste. Jemanden, der für sie ihren Mann ermorden
sollte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie ausgerechnet an Brockhaus
geraten konnte. Irgendwo im Netz hatte sie ihn aufgetan, und das war
schließlich Ludwigs Welt.
Ich machte so einen Mist nicht mehr, ich war draußen. Hatte genug
von den Halbwahrheiten oder den angeblichen Notwendigkeiten der Staatsräson. Niemand
hatte je behauptet, dass das, was wir getan haben, legal gewesen wäre. Es war
nur immer so gewesen, dass das kleinere Übel gewählt werden musste, um dem
großen Übel
Weitere Kostenlose Bücher