Der multiple Roman (German Edition)
Und ich denke jetzt, dass wenn sich eine Ähnlichkeit nicht durch die Anwendung einer beständigen Technik ergibt, wenn sich diese eher dadurch ergibt, dass man auswählt, welcher Aspekt eines Werkes unbedingt auch in der Übersetzung vergleichbar gestaltet werden muss, welche Aspekte das Wesen eines Romans ausmachen – dann variiert dies von Roman zu Roman. Eine optimale Übersetzung reproduziert also in einer neuen Sprache die Experimente eines Romans in der Originalsprache.
Es wird so viele Übersetzungsstile geben, wie es Romanstile gibt. Und diese Wucherung steht für die endlose, geduldige, winzige Anfechtung des Konzepts des Unbeschreiblichen. Und sie ist auch der Grund, warum die Dritte Sprache das Kernprinzip des Übersetzens sein muss. Jede Übersetzung stellt das gleiche Experiment dar, nur jeweils in einer neuen Sprache. Denn das Experiment selbst war von Anfang an international.
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Eine Allegorie dieser Internationalität kann ich durch meine letzte Geschichte über Witold Gombrowicz in Buenos Aires und über seinen großen gebrochenen Roman
Ferdydurke
vermitteln. 1945 gab ihm seine Freundin Cecilia Benedit de Benedetti einen Geldbetrag, damit er
Ferdydurke
ins Spanische übersetzen konnte. Sie hoffte, dass er so endlich die Sphären der Weltliteratur erreichen würde, durch den triangulierenden Zwischenschritt einer anderen Sprache: von der kleinen in die große. Diese Übersetzung wurde letztendlich in über achtzehn Monaten von einer engagierten Gruppe von Literaten angefertigt, unter der Leitung der kubanischen Schriftsteller Virgilio Piñera und Humberto Rodríguez Tomeu und von Gombrowicz. Sie übersetzten in einem Schachraum in der zweiten Etage des Café Rex, Gombrowicz’ Lieblingscafé in Buenos Aires. Einem seiner frühen Kollaboratoren, Adolfo de Obieta, zufolge, war diese Übersetzung daher intrinsisch lustig: Sie war auf charmante Weise amateurhaft – weil sie keine gemeinsame Sprache als Basis hatte. Und so saßen sie dort und »übertrugen das Buch eines polnischen Autors, der fast überhaupt kein Spanisch verstand, aus dem Polnischen ins Spanische, unterstützt von fünf oder sechs Lateinamerikanern, die kaum zwei Worte Polnisch konnten«.
Damals gab es noch kein polnisch-spanisches Wörterbuch.
Die Übersetzung erschien im April 1947 , zusammen mit einer verteidigenden Begleitnotiz von Piñera, der sich sorgte, dass der nicht vorgewarnte spanische Leser die Sonderbarkeit der Sprache vielleicht auf die Unfähigkeit der Übersetzer schieben könnte. Nein, nein, schrieb er. Das läge alles nur an Gombrowicz’ neuer, ganz andersartiger Vision von Sprache im polnischen Original. (Welches Piñera natürlich nicht lesen konnte.)
Mir scheint dies das Ideal der Dritten Sprache zu sein: die Praxis internationaler, amateurhafter Produktionen, die sich der Schöpfung neuer Originale verschrieben haben – mit der gleichen Struktur, aber jeweils im Sinne der neuen Sprache umgestaltet. Und diese Struktur kann sich dann um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern: weltweit ihre unendlichen Leser zu formen.
Der zukünftige Leser
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Denn jeder Roman ist der Versuch, seine idealen Leser zu formen. Und dies erreicht ein Roman durch seine Beschaffenheit. Das ist meine Ausgangstheorie, und sie braucht ein Ausgangsbeispiel.
Museo de la Novela de la Eterna
(
Das Museum von Eternas Roman
) ein Roman, den der argentinische Schriftsteller Macedonio Fernandez schrieb, aber nie veröffentlichte, besteht zur Hälfte aus Prologen. Dieser Überfluss an Prologen kann einen vermutlich zu widersprüchlichen Schlüssen führen. Es ist ein Roman, mag man denken, der nicht wirklich zum Anfang kommen will. Oder vielleicht ist es eher ein Roman, der nicht zum Ende kommen will. Oder aber, es könnte ein Roman sein, der überhaupt kein Roman sein will. Er möchte nicht zu seiner eigenen Zukunft werden. Und trotzdem, wenn sich ein Roman selbst ein Museum ist, dann muss der Leser doch auf gewisse Weise annehmen, dass er zumindest irgendwann einmal in der Vergangenheit existiert haben muss.
Macedonio Fernandez wurde 1874 geboren und starb 1952 . Er begann seinen Roman um 1925 herum und arbeitete bis zu seinem Tod an insgesamt fünf Fassungen. Hierbei handelt es sich um ganz normale Fakten, die mit Zeit zu tun haben. Aber dieser Roman war ein Apparat, der zeigen sollte, dass alle diese Fakten überhaupt keinen Sinn machten.
Ja, Macedonio Fernandez’ Roman würde sich freuen, wenn er die herkömmlichen Konzepte der
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