Der multiple Roman (German Edition)
Sprache sehr selten, wenn überhaupt, nur auf eine bestimmte Sache beziehen. Sie sind eher wie Schwärme oder Felder. [71] Aber dieser Traum der Einheit von Wort und Ding hat zu der Vorstellung geführt, dass Sprache irgendwie mit dem Unsagbaren in Verbindung steht. Wobei das Unsagbare nur eine Illusion der Sprache selbst ist. Es ist die Annahme der Existenz einer Einschränkung, wo es eigentlich nur Beschränkungen gibt.
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Aber diese Vorstellung vom Unsagbaren brachte traurige Konsequenzen für das Übersetzen und die Stellung dieser Praxis mit sich. Sie hat eine lange Geschichte unnötiger Probleme zu verantworten.
Als Constance Garnett sich daran machte, Tolstois
Anna Karenina
ins Englische zu übersetzen – im nebligen London, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts –, beschloss sie, den russischen Titel als Hilfestellung für die englische Öffentlichkeit zu anglisieren, diesen fremd klingenden Titel: Der Name Anna Karenina musste übersetzt werden. Was blieb ihr anderes übrig, im nebeligen London des neunzehnten Jahrhunderts, als den Klang von Annas russischklingendem, femininen Nachnamen abzuändern und aus Karenina Karenin zu machen, einen britischen Nachnamen? So hatte Tolstois Roman in Constance Garnetts Übersetzung also den Titel
Anna Karenin
. Aber natürlich war dies überhaupt gar kein britischer Nachname. Es war nichts weiter als ein Hybrid, ein Dodo – eine russifizierte Engländerin, eine verenglischte Russin.
Allerdings hat dieser Name, diese unzeitliche und verfehlte Übersetzung, etwas Seltsames, das mir symbolisch zu sein scheint. Es ist mein neuer Name für eine Neurose, eine Sorge. Es ist die Neurose der Unübersetzbarkeit.
Es wird beispielsweise oft behauptet, dass eine Übersetzung nie ein angemessener Ersatz für das Original sein kann. Aber eine Übersetzung versucht nicht, zum Original zu werden, sondern nur, ihm zu ähneln. Und da eine Kopie nie zu ihrer Quelle werden kann, muss das ungewöhnliche Begriffsduo des Übersetzens – Treue und Wortwörtlichkeit – dazu gebracht werden, sich zu verflüssigen. [72] Es wird ihnen gar nichts anderes übrigbleiben – selbst im Fall der durchgeknalltesten originellsten Prosa. Stil, so das Klischee, macht ein Werk deswegen unübersetzbar, weil es eine so verwickelte Beziehung zwischen Form und Inhalt aufbaut. Aber diese Melancholie ist nur melodramatisch. Es wird immer möglich sein, in einer Übersetzung neue Beziehungen zwischen Klang und Sinn zu finden, die genauso interessant sind, auch wenn sie phonetisch nicht ganz deckungsgleich sein sollten. Genauso wie ein Witz lebt Stil von der geistreichen Entdeckung von Gegenwerten. Sicher, Erfindungsreichtum wird immer nötig sein, um eine gewisse Form von Exaktheit zu bewahren. Es wird immer möglich sein, einen irrsinnig förmlichen Roman zu übersetzen, solange bestimmte Details des Inhalts überarbeitet werden können. Aufgegeben werden müssen nur die vorgeschriebenen allgemeinen Regeln der Treue oder der Wortwörtlichkeit. Denn die Wahl zu treffen, in welcher Weise eine Übersetzung so sein soll wie ihre Quelle, bedeutet nicht, dass die Übersetzung ihr gegenüber unbedingt Mängel haben muss. Nein, das Übersetzen folgt einer eigenen, neuen Rechenart.
»Wittgensteins Auffassung:«
schreibt Lydia Davis in ihrem Text über das Übersetzen von Flauberts Werk. »Dass das Übersetzen wie eine Spielform der Mathematik ist: Es kann eine Lösung gefunden werden, aber es gibt keine Regel dafür, wie man Lösungen findet.« [792] Und das ist wunderbar – es bringt uns zurück zum Wahrheitsgehalt von Übersetzungen, wie dem von jener Geschichte, die irgendwo im Midrasch steht, über einen Mann in Jerusalem, der einen Traum hat und 24 Rabbiner konsultiert, um die Bedeutung des Traumes für seine Zukunft herauszufinden. Alle 24 Rabbiner gaben ihm eine andere Antwort, und alle werden wahr.
Und das ist der Grund, weshalb die orthodoxen ethischen Darstellungen – die Frage, ob man sich selbst übersetzt oder jemand anders; ob diese andere Person tot ist oder lebendig; und ob der tote Autor in einer bedeutenden Sprache schreibt oder einer ausgestorbenen – all dies scheint auf genauso unnötige Weise absolut zu sein, wie auch absolut müßig. In einer Übersetzung geht es wie in jeder anderen Kunstform darum, ein entsprechendes Zeichen zu finden – genauso wie Picasso einst Brassaï seine Kunst erklärte. Das stimmt sowohl für den Roman als auch für die Übersetzung eines Romans.
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