Der multiple Roman (German Edition)
Zeit widerlegen könnte. Und das ist kompliziert. Es ist eine Erfindung, deren Schlussfolgerungen bisher noch nicht alle zur Kenntnis genommen wurden.
2
In Argentinien experimentierte man während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit fiktiven Wirklichkeiten. Am berühmtesten sind die Untersuchungen von Macedonio Fernandez’ Freund und Protegé Jorge Luis Borges. [73] Aber meiner Meinung nach war es Macedonio, der Borges beibrachte, den Leser in den Mittelpunkt zu stellen. Es war Macedonio, der in seinem verrückten Roman den sonst stillschweigend praktizierten Mechanismus der Manipulation und Formung des Lesers ganz offen betrieb – wie die eindringliche Unregelmäßigkeit von Henry James, die den Leser dazu brachte, ihm vertrauensvoll in zwielichtige Situationen zu folgen; oder die Muster in den Texten von Nabokov … All die verschiedenen Möglichkeiten, wie eine Komposition als Ganzes zu einer Oberfläche von Themen werden kann, die von dem geduldigen Leser entschlüsselt werden müssen.
Macedonio machte aus dieser Art der Verschlüsselungen stattdessen Theater.
3
An später Stelle in seinem Roman unterbricht Macedonio Fernandez den Lesefluss mit einem Dialog zwischen Leser und Autor. Der Autor klagt: »Leser, manchmal bitte ich dich auf meinen Seiten um deine Anwesenheit und du bist abwesend; dein Gesicht allein nähert sich und spiegelt den Traum dieser Seiten wider, und du bist abwesend. Was mich stört ist der Leser: Du bist mein Problem, deine Existenz kann man nicht überwinden; der Rest ist nur ein Vorwand, um dich dazu zu bringen, in Hörweite dieser Geschehnisse zu bleiben.« [793] Dieser kleine Einblick in eine verrückte Unterhaltung zeigt dir, lieber Leser, worin das Grundproblem besteht. Macedonio Fernandez war der erste Schriftsteller, der das Problem des Schreibens ganz explizit als Problem des Lesers verstand. Das war die Grundlage, auf der seine Entdeckungen aufbauten. Auf diese Weise entwickelte er Techniken, die darauf abzielten, die unbezwingbare Präsenz des Lesers als beständige, externe Präsenz aufzulösen. Seine Romane waren kleine Anstrengungen, alles Wirkliche zu fiktionalisieren (oder andersherum): Und dies konnte er nur erreichen, indem er zuallererst den Leser in eine Fiktion verwandelte:
Es ist eine Arbeit, für die Feinsinn und Geduld gebraucht werden: sich des Selbst zu entledigen, Innenleben und Identitäten zu zerrütteln. In all meinen Texten habe ich nur acht oder zehn Minuten erschaffen können, in denen zwei oder drei Zeilen die Stabilität, die Integrität einer Person unterbrachen, beizeiten sogar die des Lesers. Trotzdem glaube ich immer noch, dass die Literatur nicht existiert, weil sie sich nicht ausschließlich diesem Effekt der Un-Identifikation gewidmet hat, das Einzige, das ihre Existenz rechtfertigen würde … [794]
Und diese Technik des Unterbrechens hat ein klares Ziel: Der wirkliche Schluss ist die Unsterblichkeit. Denn wenn er es je vollbracht habe, schreibt der charmante Macedonio, »eine Verschiebung des Selbst des Lesers« zu bewirken, dann sei dies nur ein Mittel zu einem noch verrückteren Zweck gewesen: »die Befreiung von der Idee des Todes«. Denn »das Schwinden, die Wandelfähigkeit, das Drehen und Kreisen des Selbst machen es unsterblich, trennen also, mit anderen Worten, sein Schicksal vom Körper«. [795]
Dies ist das höchste Ziel von Macedonios fiktivem Werk. Nur in der Fiktion, glaubte er, ließe sich ein solches Ziel überhaupt realisieren. Er wolle nur, das sagt er über den Leser, »ihn als Figur gewinnen, so dass er für einen Moment glauben kann, nicht am Leben zu sein«. Und das ist nur durch die elastischen Techniken des Romanschreibens möglich: Nur Romane haben diese ontologische Macht: »Ich habe nicht das Gefühl, dass sonst jemand dieser Methode gefolgt ist, oder dass man sie in einem anderen Genre, als der Romanform, anwenden könnte.« [796]
4
Dies lässt sich aber auch von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Macedonios Roman wurde unter dem Druck des Unendlichen, des Ewigen, geschrieben. »Dieser Roman möchte nicht von der Ewigkeit getrennt sein; er möchte die Brise des Ewigen auf seinem Gesicht spüren können …« [797] Ein mit Blick auf die Ewigkeit geschriebener Roman wird immer einige ungewöhnliche Dinge voraussetzen: zum Beispiel, dass alles Wiederholung ist, was wiederum bedeutet, dass so etwas wie der Tod nicht existiert, was wiederum bedeutet, dass so etwas wie das Selbst nicht
Weitere Kostenlose Bücher