Der multiple Roman (German Edition)
es möglich ist, den grellen neonfarbenen Alltag wieder zurückzuholen. Eine Theorie der Dritten Sprache muss gar nicht mehr wollen als dies: dass die Struktur eines Werkes, seine Form, sein Stil – all das, was das Wesen dieses Werkes ausmacht – die Transmigration in multiple Sprachen überleben kann.
So dass ich, wenn ich an die großen Übersetzungen in der Geschichte der Romankunst denke, an Paveses
Moby Dick
zum Beispiel oder die französische Übersetzung von Joyces
Anna Livia Plurabelle
, durchaus überzeugt bin, dass es möglich ist zu argumentieren, dass es sich bei einer Übersetzung genauso um eine Aufbereitung von Sprache handelt wie bei einem Original. Eine Übersetzung kann zu einem neuen Original werden. Und dies ist aus zwei Gründen möglich. Zum einen, weil alle Sprachen immer den Zustand anstreben, den Benjamin reine Sprache nennt – dieses perfekte Esperanto. Und zum anderen, weil das Verhältnis von Form und Inhalt in einem Roman nie so eng ist, wie Benjamin behauptet. Sein Argument dreht sich eigentlich um die Frage, was das reinste Ideal der Lyrik ist. Während Romane viel unordentlichere, zerrütteltere Vorrichtungen sind. Ihre Form ist iterativ, fortlaufend: Ein Roman ist, in der Sprache meiner Hommage an Gadda, fraktal. Dies ist der Grund, weshalb die Übersetzung eines Romans nicht unbedingt das ursprüngliche Original zum Vorbild haben muss. Sie kann auch anhand eines zweiten Originals angefertigt werden. Denn was an jeder der multiplen Stufen des Übersetzungsprozesses wirklich gebraucht wird, ist nicht Treue, sondern kreative Energie für Neugestaltung.
3
Armer Walter Benjamin! Armes zwanzigstes Jahrhundert! Er glaubte, was man am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eben glaubte – dass Form und Inhalt in einem Original die gleiche Sache sind. Und so formulierte er immer wieder dieselbe Überzeugung: dass es keine wahre Übersetzung geben kann. Aber der Traum vom Unübersetzbaren ist genauso leer wie der Traum vom perfekten Werk. Dass es so etwas wie Unübersetzbarkeit gibt, ist nichts weiter als eine Behauptung. Eine Behauptung, die nicht auf erkennbaren Fakten basiert.
Was natürlich nicht bedeutet, dass eine falsche Vorstellung keine illustre Geschichte haben kann. Dass die Wörter so eng mit den Dingen verknüpft sind, die sie kennzeichnen, ist ein uralter Wunsch. Er ist so alt, dass er sogar in Begleitung eines alten Witzes durch die Jahrhunderte zu uns gekommen ist. »Chrysipp lehrt: ›Wenn du etwas sagst, kommt es aus deinem Mund; wenn du also sagst
ein Karren
, dann kommt der Karren auch aus deinem Mund.‹« [790] Dies war die verrückte Lehre von Kratylos und seinen Schülern. Und es ist eine Lehre, die später andere Anhänger fand (wie Mallarmé oder Rimbaud oder Heidegger oder Leiris); die zauberhafte Vorstellung, dass Wörter zu Dingen werden können. Aber die Verwandlung eines Wortes in ein Ding käme der Erschaffung einer privaten Sprache gleich. Ja, dieser Traum von der Privatsprache deckt sich, denke ich, mit dem Traum von der Unübersetzbarkeit: ein Ideal der völligen Abgrenzung. Aber es ist gleichzeitig eben nur ein Traum – eine Verleugnung der Tatsache, dass Sprache immer und nur öffentlich sein kann. [70] Es war der Traum, der Samuel Beckett antrieb, als er 1929 über Joyces
Work in Progress
schrieb. Und die fertige Version dieses Werks,
Finnegans Wake
, war, soweit ich weiß, der Auslöser für noch manischere Statements des zwanzigsten Jahrhunderts, wie zum Beispiel im Falle des Absatzes aus John Cages »Vorwort« zu seinem Essayband
M
. John Cage – dessen noble Hingabe an alles Wahllose ihn bis zu diesem Punkt brachte, zu seiner Definition der Syntax als die
Gruppierung der Armee
:
In dem Moment, wenn wir uns von der Sprache wegbewegen, entmilitarisieren wir sie. Diese Entmilitarisierung der Sprache kann auf vielfache Weise geschehen: eine einzige Sprache wird pulverisiert; die Grenzen zwischen zwei oder mehr Sprachen werden übertreten; Elemente, die nicht strikt sprachlich sind (grafisch, musikalisch), werden eingeführt; etc. Übersetzung wird, wenn nicht unmöglich, zumindest unnötig. Unsinn und Stille werden produziert, wie sie die Liebenden kennen. Wir beginnen damit, tatsächlich miteinander zu leben, und der Gedanke an Trennung kommt uns erst gar nicht. [791]
Unsinn und Stille! Es ist ein Traum und hoffnungslos. Das liegt teils daran, dass jede Sprache immer ein kollektives Besitztum ist; und auch daran, dass sich die Wörter einer
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