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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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brachte Maupassant nicht nur bei, wie man einen Concierge beschreibt, er führte ihn auch in die Metaphysik der Themen ein: Von Flaubert lernte Maupassant, dass die Welt handlungsfrei war. So dass Maupassant, als er seinen ersten Roman schrieb, diesem den auf experimentelle Weise abstrakten Titel
Une vie
(
Ein Leben
) gab: Das Leben, das er darin beschrieb, war nur eine dahintreibende Abfolge flüchtiger Momente. [18] Er begann nicht am Anfang und hörte nicht am Ende auf. Er beschrieb einfach eine Abfolge persönlicher Unglücke.
    Der Roman wurde 1883 veröffentlicht. Fünf Jahre später veröffentlichte der kosmopolitische amerikanische Schriftsteller Henry James einen Aufsatz über Maupassant – in diesem Aufsatz beschreibt James
Une vie
als avantgardistisches Werk, das die herkömmliche Vorstellung davon, wie die Handlung eines Romans beschaffen sein müsse, angreift: »Er arrangierte, wie ich ausführe, so wenig wie es ihm möglich war«, schrieb James; »die Notwendigkeit einer ›Handlung‹ sah er in keinster Weise, und seine Bemühungen hatten stets das Ziel, kein gefasstes, rundes Bild des Lebens zu schaffen, sondern es mit seinen Zufällen, seinem durchbrochenen Rhythmus darzustellen …« [89] Und so schlug James dem Leser vor, dieser Roman erörtere »die Frage, was eine ›Geschichte‹ ausmacht, denn er besitzt zwar ganz eindeutige Abfolgen, während er aber nichts aufweisen kann, was der üblichen Vorstellung davon, was eine Handlung ausmacht, entspricht«. [90] Das ist wahr, aber ich bin nicht sicher, ob es auch avantgardistisch genug ist. Denn eine Abfolge von Motiven kann genauso dramatisch wirken wie eine Abfolge von Geschehnissen: Der Leser muss nur den Machenschaften eines Musters folgen können.
    Aber das Thema eines Romans ist keine festgelegte Instanz. Es kann von Mutationen und Variationen durchzogen sein. Während in der Musik Variationen über ein Thema untereinander mathematisch verwandt sind, stehen die Themen und Variationen in Romanen in einem angespannteren Verhältnis zueinander. In der Musik kann es reine Form geben, während das in einem Roman nie ganz möglich ist. Im Gegensatz zur Musik kann die Kompositionskunst in einem Roman von den Komplikationen des behandelten Stoffs sowohl behindert als auch belebt werden: von dem Versuch, dem Chaosmos der Realität gerecht zu werden. Das Thema eines Romans ist daher viel unordentlicher, viel aufnahmefähiger als sein musikalisches Äquivalent. Überall kann es Wiederholungen geben. Und daher werden sie erst im Nachhinein für den entzückten Leser sichtbar, wenn der Roman zu Ende ist.
    3
    Vielleicht tauchte dieses Konzept der retrospektiv sichtbar werdenden Muster sogar noch früher zum ersten Mal auf: 1830 in Sankt Petersburg.
    Denn 1830 konnte dem stöbernden Leser in einem Buchladen in Sankt Petersburg ein Erzählungsband in die Hände fallen, der unter dem Titel
Die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin
beworben wurde. Das Buch enthält fünf Geschichten und eine Anmerkung »des Herausgebers«, die mit den Initialien »A. P.« unterzeichnet ist. In dieser Anmerkung zitiert A. P. ausgiebig aus einem Brief mit bibliographischen Informationen über Belkin, der angeblich von einem Nachbarn Belkins stammte, welcher aber anonym zu bleiben wünschte. Dem Nachbarn zufolge waren die Geschichten, »wie Iwan Petrowitsch zu sagen pflegte, größtenteils wahr, und sie wurden ihm von verschiedenen Personen erzählt«. [91] Eine Fußnote des Herausgebers A. P. zählt weitere Namen von Erzählern auf: »Der Posthalter« wurde ihm mitgeteilt vom Titularrat A. G. N., »Der Schluß« von Oberleutnant I. P. L., »Der Sargmacher« vom Verwalter B. W., »Der Schneesturm« und »Das Edelfräulein« von dem Fräulein K. P. T. [92]
    Der Schriftsteller als Regression! Da ist der wahre Autor dieser Geschichten: Alexander Puschkin. Und dann ist da noch der vermeintliche Autor, Iwan Petrowtisch Belkin. Außerdem ist da auch noch der Herausgeber, A. P., der, so denkt man, Puschkin selbst sein muss. Und dann werden auch noch die wahren Autoren der Geschichten erwähnt: verborgen hinter ihren Initialien – A. G. N., I. L. P., B.  V ., und Fräulein K. P. T. Aber an diesem Punkt wäre es dem Leser in Sankt Petersburg möglich zu sagen, was das eigentliche Thema dieser Geschichten ist: ihre Bedeutung im weiteren Sinne. Sie beschäftigen sich damit, wie jemand überhaupt dazu kommt, sich eine Geschichte über irgendetwas

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