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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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auszudenken. Sie waren alle Beispiele für Secondhand-Literatur. Denn warum würde A. P., der Herausgeber dieser Geschichten, sonst so beflissen Belkins anonymen Nachbarn zitieren, der betont, dass die Namen der Dörfer und Ortschaften in den Geschichten alle der Wirklichkeit entnommen seien – »nicht aus böser Absicht, sondern einzig aus Einfallslosigkeit«? [93]
    Puschkin schrieb diese Geschichten im Herbst des Jahres 1830 auf seinem Landsitz in Boldino. Während drei produktiver Monate schrieb er vier Stücke, ein humorvolles narratives Gedicht und einige lyrische Gedichte. Vor allem aber schrieb er das letzte Kapitel seines Romans in Versen,
Eugen Onegin
, und dann, am 26 . Oktober, ein biographisch-fiktionales Fragment. Den größten Teil dieses Fragments macht die Beschreibung eines Dichters aus, der ein Bekannter des Schriftstellers ist. Dieser Teil ist, wie der Brief des anonymen Nachbarn an den Herausgeber von Belkins Geschichten, vor allem als Einleitung für das, was danach kommt, gedacht. Aber dann gibt es einen Bruch, und es folgt dieser Absatz: »Dieses Fragment beinhaltete vermutlich das Vorwort zu einer Geschichte, die nie aufgeschrieben oder die verloren wurde. – Wir wollten es nicht zerstören …« [94]
    Alles was Puschkin während jener Phase schrieb, im Herbst des Jahres 1830 in Boldino, einschließlich seines großen komischen Romans
Eugen Onegin
, war eine Untersuchung der Bedingungen von Fiktion. Sein Interesse an der Form des Vorworts diente einzig der Dramatisierung einer eingängigen Intuition: dass es in der Literatur keinen absoluten Stil gibt. Jeder Tonfall kann imitiert werden. Diese Geschichten des belanglosen imaginären Schriftstellers Iwan Petrowitsch Belkin sind daher notwendige Begleitexperimente für seinen großen Metaroman
Eugen Onegin
, ein Roman, der so tut, als erzähle er die wahre Geschichte Eugen Onegins, eines Freundes von Puschkin. In diesem Roman benötigt Puschkin kein Vorwort mehr, denn er war darin bereits einen Schritt weiter gegangen: Die Stimme des Herausgebers A. P. war selbst zur Erzählstimme geworden.
    Denn dies war Puschkins entscheidende Erkenntnis – seine radikale Art, die Fiktion zu erleichtern: Alles kann wie Fiktion behandelt werden, das Einzige, was dazu benötigt wird, ist das richtige Vorwort – alles, was man braucht, ist ein Erzähler. Und jeder Erzähler, sogar Puschkin, ist auf gewisse Weise erfunden.
    Viele Jahre später, im Prager Exil, sollte der russische Sprachwissenschaftler Roman Jakobson einen Aufsatz mit dem Titel
Linguistik und Poetik
schreiben und folgendes vorschlagen: »Jede poetische Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede mit all den eigentümlichen und verwickelten Problemen, welche die ›Rede innerhalb der Rede‹ dem Linguisten auferlegt. Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig …« [95] Diese trockene Einsicht ist eine exklusivere Abstraktion von Puschkins fröhlichen Spielereien. Puschkins Stil beruht auf Parodien und auf seiner Theorie von Fiktion –, seiner Vorstellung, dass man nicht einfach man selbst sein kann; dass man keinen absoluten Stil erfinden kann. So etwas ist nicht einmal möglich, ein absoluter Stil. Man muss sich stattdessen der Stile anderer bewusst sein.
    Und dies benötigt gleichzeitig die Aufmerksamkeit des emsigen Wieder-Lesers.
    4
    In Puschkins Roman
Eugen Onegin
, den er in Versen schrieb und 1833 veröffentlichte – und der über hundert Jahre später von Vladimir Nabokov ins Englische übersetzt wurde –, kommt ein junger Mann namens Lenski vor. Lenski ist ein junger Liebhaber, und er ist auch Dichter. Allerdings bekommt man den Eindruck, dass er vielleicht nicht der beste Dichter ist.
    Er sang vom Scheiden und von der Traurigkeit,
    von
Irgend etwas
und von nebliger Ferne
    und von romantischen Rosen,
    er sang von jenen fernen Ländern,
    wo lange in den Schoß der Stille
    seine heißen Tränen geflossen waren,
    er sang von der verwelkten Blüte des Lebens
    mit nicht mal achtzehn Jahren. [96]
    »Unsere Literatur wird es nicht zu viel bringen«, schrieb Puschkin einmal, »wenn sie sich nur Erinnerungen vergangener Jugendtage bedient.« Sie wird es daher durch Lenski nicht zu viel bringen. Aber zum Glück wird auch Lenski es nicht zu viel bringen. Er stirbt frühzeitig bei einem Duell. Lenskis Tod in
Eugen Onegin
 – denn dies ist ein Roman, in dem sogar der Tod zur Komödie wird –

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