Der multiple Roman (German Edition)
beruht.
Stellen Sie sich ein Flugzeug vor – abgesehen einmal von der technischen Undurchführbarkeit –, das in vollem Flug einen anderen Apparat konstruiert und abfliegen läßt. Dieser Flugapparat, obgleich vom eigenen Flug völlig in Anspruch genommen, schafft es dennoch auf die gleiche Weise, einen dritten zu montieren und abfliegen zu lassen. [58]
Eine sich selbst zusammensetzende Flugmaschine: Diese phantastische Metapher ist Mandelstams bester Versuch, die unmögliche Kontamination von Form und Inhalt in Romanen zu beschreiben – einen Prozess der Verwandlung und seine Umkehrung:
So breit er ist, muß über den ganzen Fluß hinübergelaufen werden, der vollgepfercht ist mit wendigen und in verschiedene Richtungen strebenden chinesischen Dschunken – so wird der Sinn des dichterischen Sprechens geschaffen. Er läßt sich nicht wie eine Marschroute rekonstruieren durch Befragung der Schiffer. Sie können nicht erzählen, wie und warum wir von Dschunke zu Dschunke hinübergesprungen sind. [59]
Ja, genau so funktioniert ein Roman: Sein Sinngehalt ist viel mobiler, viel flüchtiger, als es die herkömmlichen Vorstellungen von Sinn vorsehen. Ein Roman ist ein Ziel für Flüchtende. Und somit kann er auch vielfach und multipel sein. Wenn man ihn in andere Sprachen übertragen will, muss man nur alle seine Richtungsänderungen imitieren.
2 Zweite Abfolge (Romane)
Themen
1
Was den Wieder-Leser betrifft, so wäre seine Aufgabe vielleicht dann einfach, wenn es das Ziel der Romankunst wäre, eine Abfolge von Geschehnissen chronologisch wiederzugeben. Aber man muss die Welt nicht als Sequenz darstellen … als Aneinanderreihung von Themen. Der Wieder-Leser darf seine Aufmerksamkeit nicht nur der Wahrnehmung von Geschehnissen widmen. Nein, der Wieder-Leser muss auch nach viel komplizierteren Strukturen im Verborgenen suchen: hinter den Ereignisketten, den fangarmigen Themennetzwerken.
Und dieses Konzept der im Verborgenen gehaltenen Themen finde ich sehr merkwürdig. Es ist überhaupt kein natürliches Konzept. Aber sein Hervortreten in die Öffentlichkeit kann vielleicht an einem Datum festgemacht werden: dem 14 . November 1850 , als Flaubert, gegen Ende seiner Reise nach Ägypten und in den Mittleren Osten von Konstantinopel aus an seinen besten Freund, Louis Bouilhet, schrieb. Er schrieb ihm, dass er sich drei Geschichten ausgedacht hatte – eine über Don Juan, eine weitere über eine Frau, die mit dem Hundegott Anubis schlafen will, und eine dritte über ein Mädchen, das Mystikerin ist und als Jungfrau stirbt. Aber er könne nicht damit anfangen, diese Geschichten aufzuschreiben, weil er sich sorgte, dass diese Geschichten »vielleicht ein und dieselbe« seien. [87] Flauberts Sorge war, dass sie alle identisch sein könnten. Denn alle hatten das gleiche Thema: den Schnittpunkt von mystischer und sexueller Liebe. Und obwohl einem dies wie ein typischer Fall von Unentschiedenheit vorkommen mag – bevor Flaubert entschied, dieses Projekt einfach aufzugeben und stattdessen einen provinziellen Roman zu schreiben, den er
Madame Bovary
nennen sollte –, denke ich, dass es sich hierbei um eine grundlegende Entdeckung handelt: um eine Entdeckung, die aus der früheren Entdeckung Stendhals hervorging, dass die Welt ein unendlicher Horizont von Details ist: dass der Orient so heimisch ist wie die Heimat. In Konstantinopel hatte Flaubert die Metaphysik der Themen entdeckt. [17] Diese metaphysische Theorie – dass sich alles mit etwas anderem in Verbindung bringen lässt, dass alles eine Variation eines Themas sein kann – ließ ihn nie wieder los. Sie hatte zur Konsequenz, dass ganz verschiedene Orte gleichbedeutend sein konnten, dass von einem literarischen Standpunkt aus gesehen ein Dorf namens Yvetot so schön sein konnte wie Konstantinopel, und sie bedeutete auch, dass Handlungen durch Themen ersetzt wurden. Wie Orte sind Handlungsstränge ein Konstrukt. Sie sind Fabriken für die Produktion von Themen. So, dass Vladimir Nabokov ungefähr hundert Jahre später dem amerikanischen Leser beschreiben konnte, wie »sich in Gogols Büchern die eigentliche Handlung hinter der vordergründigen versteckt … Seine Geschichten ahmen Geschichten mit einer Handlung nur nach« und gehen davon aus, dass es möglich ist, ihn zu verstehen. [88]
Diese Sichtweise zeugt von großem Einfallsreichtum. Erst jetzt, lange nach der Geburt des Romans, scheint Originalität etwas komplett Normales zu sein.
2
Flaubert
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