Der multiple Roman (German Edition)
Depression und Unglücke sind leider keine Garanten für Intelligenz. Genau wie die Heldin seines Romans war Flauberts Bewunderin unheilbar romantisch. Und Flauberts Definition zufolge waren Romantiker immer Falsch-Leser. Eine Romantikerin war also nur eine Durchschnittsleserin. Mademoiselle Leroyer de Chantepie hatte einen entscheidenden Fehler gemacht.
Am 9 . Oktober 1852 schrieb Flaubert an seine Freundin Louise Colet und erzählte von seinem damals noch unveröffentlichten Roman:
Ich bin dabei, eine Unterhaltung zwischen einem jungen Mann und einer jungen Dame zu schreiben, über die Literatur, über das Meer, die Berge, die Musik, eben alle poetischen Sujets. – Man könnte sie ernst nehmen, und sie zielt aufs Groteske. Es wird, glaube ich, das erste Mal sein, dass man ein Buch zu sehen bekommt, das sich über seine junge weibliche und seine junge männliche Hauptperson lustig macht. Dem Pathetischen tut die Ironie keinen Abbruch. Sie treibt es im Gegenteil auf die Spitze. [105]
Bei diesem Gespräch handelte es sich um jenes, das Léon Dupuis mit Emma Bovary über das Lesen führte, während er seinen Fuß so vertraut auf eine der Querleisten des Stuhls gestellt hatte, auf dem Madame Bovary saß.
[Der Geist] verbindet sich so sehr mit den Personen, als ob wir selbst in ihren Gewändern bangten.
Wie wahr! Wie wahr!, sagte sie.
Haben Sie nicht zuweilen erlebt, fuhr Léon fort, dass Sie in einem Buch einem Gedanken begegnen, den Sie andeutlich selbst gehabt haben, einem Bild, das verblasst von weit zurückkehrt und gleichsam der völligen Klärung Ihres zartesten Gefühls.
Ich habe dies empfunden, sagte sie. [106]
Flauberts Dilemma war, dass sich Mademoiselle Leroyer de Chantepie in sein Buch verliebt hatte, weil sie es falsch gelesen hatte. Sie liebte es, weil sie sich mit den Figuren identifizierte, sie ernst nahm und an ihre Poesie glaubte. Sie empfand die romantische Exaltiertheit der Figuren als Tiefe. Damit folgte sie einer überholten Form des romantischen Lesens – einem Modus des Lesens, der zu einem gewissen Grad genau von jenem Roman überholt worden war, der ihr so viel bedeutete. Denn Flauberts künstlerisch anspruchsvollerer Roman baute auf das zugegebenermaßen schwer zugängliche Vergnügen, dessen Technik nachzuvollziehen. Statt sich in die Figuren hineinzuversetzen und sich in ihnen zu verlieren, sollte dieser neue Leser versuchen, die Muster der Klischees zu verfolgen, die sich aus ihnen ergebende Collage.
Sein Roman war ganz Oberfläche: Seine Bedeutung lag in den unzähligen Fluchtwegen seiner Komposition.
Und so bekam Flaubert, eine Woche nachdem er ihren Brief beantwortet hatte, ein Paket mit einem Porträt von Mademoiselle Leroyer de Chantepie, drei Bänden ihrer unveröffentlichten Schriften und einen Brief, in dem sie ihm noch einmal versicherte, dass sie Emma wie eine Schwester liebe. [107]
2
Eine Oberfläche hat auch Tiefe. Aber das hatte niemand so richtig bemerkt.
In
Die Autobiographie von Alice B. Toklas
, die nicht von Alice B. Toklas geschrieben wurde, sondern von ihrer Geliebten, der Schriftstellerin Gertrude Stein, erwähnt Stein ihre Theorie der neuen Länder und der alten Länder. Diese Theorie der neuen Länder und alten Länder ist identisch mit ihrer Theorie über neue Literatur und alte Literatur. Ihre Theorie ist eine Theorie über das Alter von Amerika.
Gertrude Stein spricht jetzt immer von Amerika als dem ältesten Land der Welt, weil der Bürgerkrieg und die darauffolgende Entwicklung im Handel das zwanzigste Jahrhundert schufen, und da alle andern Länder jetzt ein dem zwanzigsten Jahrhundert gemäßes Leben führen oder es beginnen, während Amerika das zwanzigste Jahrhundert bereits in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts schuf, so ist es jetzt das älteste Land der Welt.
Auf die gleiche Weise behauptet sie, daß Henry James der erste in der Literatur war, der den Weg zu den literarischen Methoden des zwanzigsten Jahrhunderts fand. [108]
Wenn man über Literaturgeschichte nachdenkt, ist es hilfreich, sich an Gertrude Steins Definition von Amerika als dem ältesten Land der Welt zu erinnern. Es ist ihre Art, darauf hinzuweisen, dass die Literaturgeschichte immer am Jetlag leidet. Denn der Roman ist kein Genre, in dem die Dinge sofort und gleichzeitig passieren. Manchmal dauert es seine Zeit, bis ein Roman sich selbst global einholt. Deshalb ist mit anderen Worten die Avantgarde nur eine Kategorie von Objekten, deren Wert erst
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