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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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verströmt seine eigene Komik; ihm wird der Luxus der Sentimentalität nicht gegönnt. Lenski besang die welke Blume des Lebens, und nun endete sein Leben in der klingenden, perfekten Kadenz von Puschkins Parodie – so wie die wunderschöne Blume seines Leben bei Sonnenaufgang dahinwelkt, genauso wie Lenski es beschrieben hätte, wenn er gekonnt hätte: Er …
    führt sachte die Hand zur Brust
    und fällt. Sein umflorter Blick
    drückt Tod aus, keine Pein.
    Ebenso langsam rutscht an einem Hügelabhang
    in der Sonne Funken sprühend
    ein Klumpen Schnee herab.
    Von augenblicklicher Kälte übergossen,
    hastet Onegin zu dem Jüngling,
    schaut, ruft ihn an … vergebens:
    Er ist nicht mehr. Der junge Sänger
    fand ein vorzeitiges Ende!
    Ein Sturm blies, die herrliche Blüte
    verwelkte im Morgenrot,
    erloschen ist das Altarfeuer! … [97]
    Die ersten sechs Zeilen sind von Puschkin. Die letzten aber sind von Lenski.
    »Es gibt in dem ganzen Roman eine Verschwörung der Wörter, die einander Zeichen senden, von einem Teil zum anderen«, schreibt Nabokov im Kommentar zu seiner Übersetzung des Romans. Seine Wahrnehmung dieses verschwörerischen Musters ist das Vergnügen, das sich dem Wieder-Leser von
Eugen Onegin
bietet – während er sich dabei amüsiert, einem Ensemble von romantischen Persönlichkeiten zu folgen, die alle ihren ganz persönlichen Stil haben, der voll von individuellen Wiederholungen ist. Und dies ist nur möglich, weil dieses fiktive Werk nun völlig inhaltslos und frei von allen Referenzen ist. In Puschkins Fiktion ist alles Reflexion: Und so sind die Themen letztendlich Parodien voneinander. Denn der Stil von Puschkins Roman beruht auf Nachahmung: Er ist eine Enzyklopädie der Parodien. Wie auch Flaubert entwickelte Puschkin einen parodistischen Stil als Essenz des Charakterisierens: die Wiederholung eines Themas, das an der Oberfläche versteckt ist.
    Alle Figuren sind, wie alle Menschen auch, romantisch: Ihr Stil ist in gewisser Weise eine Ansammlung von allem möglichen Krempel. Und dies gilt natürlich auch für die Schriftsteller selbst. Denn ein Roman ist eine Maschine, die es einem Schriftsteller oder einem Leser erlaubt – einen Moment lang – die kitschigen Details ihrer eigenen universell geprägten Vorstellungen von Romantik zu zerpflücken.
    5
    Es gibt eine spätere Coda gleichen Themas zu dieser Miniaturgeschichte. 1925 veröffentlichte André Gide in Paris seinen Roman
Les Faux-Monnayeurs
(
Die Falschmünzer
) über einen Schriftsteller, Edouard, der einen Roman mit dem Titel
Die Falschmünzer
schreibt. Zwei Jahre später veröffentlichte Gide dann das Tagebuch, das er führte, während er seinen Roman
Die Falschmünzer
schrieb, der von einem Mann handelt, der einen Roman namens
Die Falschmünzer
schreibt … Dieses Tagebuch, diese abstrakte Regression, war eigentlich ein Übungsheft, in dem er sich mit den Problemen auseinandersetzte, die sich bei der Konzipierung eines Romans ergeben. Ganz besonders liebe ich die Tatsache, dass während er über das Formproblem nachdenkt, während er sich um die Struktur seines Romans sorgt – um ihre konkurrierende, widersprüchliche, aufnahmefähige Ästhetik –, immer wieder musikalische Begriffe in seinem Vokabular auftauchen: »Ich bin wie ein Musiker, der versucht, ein Andante-Motiv und ein Allegro-Motiv nebeneinanderzustellen und zu verflechten, wie César Franck.« [98] Gide wollte eine präzisere Terminologie für die Kunst des Romans erfinden. Vor allem deswegen, weil für ihn der Roman eine Kunst der Nebeneinanderstellungen war. Eine Kunst der Ironie und der Collage: eine Abfolge von Elementen. Und es leuchtet ein, dass sich der Roman, eine Kunstform der Zusammenstellung und Kombination – deren Elemente nacheinander auftreten, wie bei einem Musikstück, nicht gleichzeitig, wie bei einem Gemälde –, sich Ausdrücke aus der Welt der Musik leihen sollte. Die skizzierte Präzision, die sie zu bieten schienen, so argumentierte Gide in seinem Tagebuch, erlaubte eine genauere Beschreibung der Probleme innerhalb einer Komposition. Aber beim Lesen von Gides Gedanken zu den Andante- und Allegromotiven erinnere ich mich auch an einen zentralen Moment in Gides Roman, wo Edouard – Gides fiktiver Schriftsteller – seine eigene Romantheorie erläutert. Was er gerne machen würde, erklärt Edouard, »ist etwas, wie die Kunst der Fuge zu schreiben. Und ich sehe nicht, warum etwas, das in der Musik möglich ist, in der Literatur

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