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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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welche Auswirkung die offizielle Anerkennung von dessen Rolle als Landvermesser auf seine Figur K. haben würde (der derselbe sein könnte wie Joseph K., oder auch nicht): In seinem ersten Entwurf hatte Kafka über diese Anerkennung geschrieben, dass sie »wie alles geistig überlegene auch ein wenig niederdrückend« [111] sei. Die Endfassung dieses Satzes aber liest sich so: »Und wenn man glaubte durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.« [112] Der Satz in der Endfassung – »ihn dauernd in Schrecken halten zu können« – bedeutet eine Reaktion auf die nun unterdrückte Verallgemeinerung in der ursprünglichen Fassung, dass geistige Überlegenheit »ein wenig niederdrückend« ist. Und da ihr Effekt so niederdrückend ist, folgt in K.’s Welt ganz natürlich, dass dies mit dem Ziel geschehen sein muss, ihn in Angst zu versetzen. So ist der Satz insgesamt voller Kafka’scher Komik, denn verwirrte Figuren beteuern fortwährend ihren ungebrochenen Glauben daran, dass sie Kontrolle über unvorhersehbare und unverständliche Geschehnisse haben. Die erste Fassung dieses Satzes ist noch ganz in der alten Romantradition geschrieben: Sie geht ganz offen mit den Verallgemeinerungen ihrer Figuren um. Anders die Endfassung. Die Endfassung ist avantgardistisch.
    Kafka ist ein mikroskopischer Autor – seine Effekte sind Anhäufungen kleiner Dinge. In einem der Manuskripte von
Das Schloß
gibt es eine entscheidende Notiz, die Kafka – natürlich, weil seine Technik auf Verschwiegenheit gebaut war – strich: »Was wahrhaft komisch ist, ist das winzige Detail.«
    (Ich beginne zu denken, dass es Details sind, die zu den wirklich tiefgehenden Problemen der Romanform führen: Details bilden den Mittelpunkt jedes Stils, und in jedem Stil wirken sie auf andere Weise …)
    Kafkas fiktive Texte verleihen Details die komisch wirkende Illusion von Länge: Sie machen sie zu absoluten und uninterpretierbaren Oberflächen. Denn alle Texte Kafkas werden zu seltsamen Formübungen, in dem Versuch, etwas präzise darzustellen. Und dies erschafft eine Oberfläche von ungewöhnlichem Tempo: eine sehr langsame, sehr massive Anhäufung des sehr Kurzen.
    4
    Nicht, dass dies etwas völlig Neues wäre. In einer Rezension zu Kafkas erstem Buch schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Musil, Kafkas Stil sei ein spezielles Exemplar innerhalb der Gattung der detailversessenen Schriftsteller nach dem Vorbild Robert Walsers. Er klassifizierte ihn als Nachahmer dieses Autors kurzer fiktiver Texte, der 1878 geboren wurde und 1956 starb. Und es stimmt, eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Wie Augusto Monterroso war Walser Experte darin zu zeigen, woraus eine Miniaturgeschichte bestehen konnte: Er war Experte für die Frage danach, was einen Stoff ausmacht. In seinen Kurzgeschichten entsagte er dem alten Konzept der Anekdote: Stattdessen waren sie Experimente des Ablehnens von Tiefgängigkeit, von Bedeutung.
    Ich ging so, und indem ich so meines Weges zog, begegnete mir ein Hund, und ich schenkte dem guten Tier alle sorgfältige Beachtung, indem ich es ziemlich lange anschaute. Bin ich nicht ein törichter Mensch? Ist es denn etwa nicht töricht, eines Hundes wegen sich auf der Straße aufzuhalten und kostbare Zeit zu verlieren? Aber indem ich so ging, hatte ich ganz und gar nicht das Gefühl, daß die Zeit kostbar sei, und so ging ich denn nach einiger Zeit gemächlich weiter. Ich dachte: »Wie ist es doch heute heiß«, und es war in der Tat recht warmes Wetter. [113]
    Diese Tautologie ist das Sinnbild von Walsers Stil. Seine Geschichten existieren in einem Umfeld, in dem Bedeutungen ausweichend reagieren. Er sagte einmal, er experimentiere »im Bereich der Sprache, weil er die Hoffnung habe, dass in ihr eine ungekannte Lebhaftigkeit existiere, deren Erweckung große Freude bereitet«. [114] Diese Lebhaftigkeit war deshalb unbekannt, weil man sie nicht in den gewöhnlichen Strukturen der Bedeutungsbildung entdecken konnte. So gilt in Walsers Geschichte über den Spaziergang das Interesse ganz und gar der Schüchternheit der launischen Details dieses Selbstgesprächs – der Tatsache, dass sie einer Geschichte angehören, die ein ganz anderes Thema zu haben scheint, das wichtiger ist als ein beiläufiger Gedankengang, der durch einen Hund ausgelöst wurde. Aber nichts anderes ist

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