Der multiple Roman (German Edition)
sichtbar. Genau wie Kafkas ist auch Walsers Stil eine völlige Wortwörtlichkeit. Also ja, Musil hatte recht, auf gewisse Weise. Aber auf der anderen Seite hatte er nur Kafkas erstes Buch besprochen: eine Sammlung von Miniaturgeschichten. In seinen längeren Prosawerken wird jedoch die ganze Oberfläche des Textes zu einem funkensprühenden Spannungsfeld.
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Die Oberfläche! Wie Kafka seine Sätze ausfransen lässt! In einem seiner Oktavhefte skizzierte er eine Figur mit zwei Sätzen: »Er fühlte es an der Schläfe, wie die Mauer die Spitze des Nagels fühlt, der in sie eingeschlagen werden soll. Er fühlte es also nicht.« [115] Diese anonyme Figur kann im zweiten Satz nichts fühlen, weil sie im ersten Satz mit einer Wand verglichen wurde. So dass sie im zweiten Satz nun selbst zur Wand geworden ist. Hierbei handelt es sich um eine Technik, die bei Kafka zentral ist – eine Metapher zu wenden, sie umzukrempeln: eine Metapher erst zu benutzen, und sie dann wörtlich zu nehmen –, und dies passierte in einem größeren Maßstab auch in seinen längeren Werken dadurch, dass er sich weigert, diese explizit als Traum auszugeben, womit er einen Stil schuf, der das Metaphorische andeutete, aber alles offen ließ. Die Eigenartigkeit von Kafkas Prosa liegt in seiner aufdringlichen Wortwörtlichkeit. Alle Bedeutungsebenen sind gleich hoch: So mag ein Bankprokurist wie ein Sündenbock wirken, aber andererseits denke ich, dass Kafka sich genausogut eine Geschichte hätte ausdenken können, in der ein Sündenbock die Gestalt eines Bankprokuristen hat.
Und dies führt zu Komplikationen.
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Konventionellerweise, weil er von Kafkas Nachlassverwalter und bestem Freund, Max Brod, entsprechend redigiert wurde, wird
Der Proceß
meist als ein Roman mit einer fortlaufenden Handlung gelesen. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob dies wirklich so seine Richtigkeit hat. Eigentlich ist die Form dieses Romans viel musikalischer: eine Abfolge reiner Aussetzungen. In Kafkas neuer Form, in der Sätze mehrdeutige Bedeutungsträger sind, bilden die Geschehnisse Konstellationen; die Kapitel werden zwar fortgeführt, existieren aber gleichzeitig auch nebeneinander. Sie überschneiden sich.
In dieser veröffentlichten Fassung von
Der Proceß
wird eine Situation beschrieben, die sich ungefähr so entwickelt. Ein Mann namens Joseph K. wird verhaftet; er besteht darauf, dass er fälschlicherweise verhaftet wurde; er versucht herauszubekommen, worin genau die Anklage gegen ihn besteht und was somit sein angebliches Vergehen gewesen sein mag: zuerst durch Gespräche mit seiner Zimmervermieterin, Frau Grubach, und dann mit einem Mädchen, das im selben Haus wohnt, Fräulein Bürstner. Er wird vor Gericht geladen, wo er sich einem unbefriedigenden Verhör unterziehen muss; später kehrt er zum Gerichtssaal zurück, wo er mit der Ehefrau des Gerichtsdieners flirtet und von einem Jurastudenten ausgestochen wird. Das ist die Handlung der ersten drei oder vier Kapitel (je nachdem, wie man sie einteilt) des Romans. Bis hierher bilden diese Kapitel eine lineare Erzähleinheit. Aber dann geschieht etwas Ungewöhnliches mit dieser ungewöhnlichen Handlung. Zuerst beobachtet Joseph K. eine Art sadomasochistische Szene zwischen drei Männern in einer Rumpelkammer in seinem Bürogebäude. Dann kommt sein Onkel in die Stadt, um ihm dabei zu helfen, die Sache aus der Welt zu räumen, was einen weiteren Handlungsstrang eröffnet, zu dem auch der Advokat des Onkel gehört – ein Mann, der wegen eines Herzleidens nur noch im Bett liegt – und dessen Pflegerin und Haushälterin Leni. Joseph K. versucht dann, sich mit einem Maler anzufreunden, der behauptet, er sei ein Vertrauensmann des Gerichts. Schließlich beschließt K., seinem Advokaten zu kündigen. Es folgt eine vorletzte Episode im Prager Dom, wo ihm ein Geistlicher von der Kanzel herunter eine Predigt hält. Und dann, am Ende, endet Joseph K.’s Leben. Die Wächter kommen, um ihn abzuholen, und töten ihn in einem kleinen Steinbruch.
Ja, dieser Roman wirkt wie ein Roman mit einer linearen Handlung, aber ich bin mir da nicht so sicher – denn wir können nicht ganz sicher sein, ob Kafka das Buch mit der Kapitelreihung veröffentlichen wollte, mit der es veröffentlicht wurde, weil er es nie fertigstellte. Sein Nachlassverwalter, Max Brod, beschloss, sowohl Kafkas Wünsche nicht zu befolgen, indem er den Roman nach seinem Tod veröffentlichte, und maßte sich außerdem an, beurteilen zu können,
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