Der multiple Roman (German Edition)
unmöglich sein sollte …« [99] Der musikalische Roman! Aus dem Nachklang seines früheren Gedankens entwickelt Gide einen ganz eigenen Strudel der Komik. Denn es ist natürlich absolutes Wunschdenken, dass ein Roman so präzise und logisch sein kann wie eine Fuge. Aber mit dieser Idee der Musik drückte Gide auch eine tiefe Wahrheit aus. Lange nachdem diese Form erfunden worden war, verteidigte er die Vorstellung der Romanform als Komposition: ein Kunstprodukt dessen Oberflächenstruktur von Mustern durchzogen ist, mit Themen, die nur für den ultimativen Wieder-Leser zu hören oder zu sehen sind.
Oberflächen
1
An einem Märztag im neunzehnten Jahrhundert kommt, wie von Gustave Flaubert beschrieben, ein neuer Arzt in dem Städtchen Yonville-l’Abbaye in der Normandie an. Sein Name ist Dr. Charles Bovary, und er ist in Begleitung seiner zweiten Ehefrau. Zur Begrüßung des neuen Paares haben sich im Dorfgasthaus versammelt: Madame Lefrançois, die Wirtin des Gasthauses; Monsieur Homais, der Apotheker, der Dorfpastor und Monsieur Léon Dupuis, ein junger Kanzlist. In der Wirtsstube plauderten sie über dieses und jenes – die Beschwerlichkeiten von Kutschfahrten, die Freuden des Reisens, das Klima in der Gegend, die Möglichkeiten für Spaziergänge. Und dann entwickelt sich ein Gespräch zwischen dem jungen Mann, Léon, und der jungen Frau, Madame Bovary. Zuerst tauschen sie sich über ihre gemeinsame Vorliebe für das Meer aus:
Oh, ich schwärme für das Meer, sagte Monsieur Léon.
Und meinen Sie nicht auch, fragte Madame Bovary, dass der Geist sich freier entfaltet über dieser grenzenlosen Fläche, deren Betrachtung die Seele erhebt und uns eine Ahnung des Unendlichen, des Idealen verleiht? [100]
Danach reden sie über ihre Begeisterung für Gebirgslandschaften und Musik. Und schließlich entdecken sie ihre größte gemeinsame Leidenschaft: das Lesen. Madame Bovarys Lieblingslektüre sei im Moment nicht Prosa, erklärt sie, sondern Lyrik. »Ich verabscheue Alltagshelden und laue Gefühle, wie sie in der Natur vorkommen.« [101] Und Léon stimmt ihr zu, dass der wahre Zweck der Kunst nicht Genauigkeit, sondern Romantik sei: »Es ist so wohltuend, sich in Gedanken aus den Enttäuschungen des Lebens in edle Charaktere zu versetzen, sich auf reine Empfindungen und Bilder des Glücks zu besinnen!« [102] Und sie reden weiter über andere Dinge, während Léon ganz vertraut den Fuß auf eine der Querleisten des Stuhls stellt, auf dem Madame Bovary sitzt. Denn sie sind dabei, sich zu verlieben, diese beiden Romantiker am Kamin. Sie teilen eine provinzielle Abneigung gegen alles Provinzielle, Normale, Häusliche: Sie sind beide überzeugt, dass ein langweiliges Leben kein Leben ist, dass die einzig wahren Dinge Gedichte und Gefühle seien. Das wirkliche Leben, so glauben sie, spiele sich anderswo ab.
Einige Jahre später, in einer anderen französischen Provinz, in Angers, griff Mademoiselle Leroyer de Chantepie, eine reiche Erbin in ihren Fünfzigern zur Feder und schrieb an Gustave Flaubert, den Autor von
Madame Bovary
. Sie wollte ihm mitteilen, wie treffend sein Porträt von Madame Bovary sei, dass seine Beschreibung des Lebens von Madame Bovary genau erfasse, »wie es in den Provinzen ist, wo ich geboren wurde und mein Leben verbringe«. »Von Anfang an«, schrieb Mademoiselle Leroyer de Chantepie über ihre neue Liebe, Madame Bovary, »erkannte und liebte ich sie, als wäre sie eine Freundin. Ich identifizierte mich so sehr mit ihren Erfahrungen, dass es mir vorkam, als sei sie ich.«
Ein Fanbrief! Aber Mademoiselle Leroyer de Chantepies Bewunderung war auch etwas melancholisch – aufgewühlt durch den Schmerz der Erkenntnis: »Wo haben Sie Ihre perfekte Kenntnis der menschlichen Natur erworben, sie ist ein Skalpell, das ans Herz, an die Seele angesetzt wurde, und es ist, ach, die Welt in ihrer ganzen Hässlichkeit.« [103] Dieses Skalpell sollte in Flauberts
Dictionnaire des idees reçues
(
Wörterbuch der Gemeinplätze
)
wieder auftauchen, wo in dem Eintrag für »Romane« die folgende Zeile vorkommt: »Es gibt Romane, die mit der Spitze eines Skalpells geschrieben sind, z.B.
Madame Bovary
, …« [104] Aber zuerst einmal stellte dieser Brief Gustave Flaubert – dessen Roman fast überall auf große Kritik gestoßen war – vor ein Problem: Was sollte er mit seiner einsamen Bewunderin, Mademoiselle Leroyer de Chantepie, anfangen? Denn sie mochte zwar unglücklich sein und depressiv, aber
Weitere Kostenlose Bücher