Der multiple Roman (German Edition)
rückblickend sichtbar wird. Was die Avantgarde zu einem unendlichen Phänomen macht.
3
Eines Morgens im Prag des zwanzigsten Jahrhunderts wacht ein Mann namens Joseph K. auf und muss feststellen, dass seine morgendliche Routine aus unerklärlichen Gründen verändert worden ist. Denn statt dass ihm, wie gewöhnlich, seine Zimmervermieterin das Frühstück ans Bett bringt, kommt kein Frühstück. Anstelle der Vermieterin erscheinen zwei Männer, die aussehen wie Wächter. Und so bemüht sich Joseph K. von seinem Bett aus um einen freundlichen Austausch. Er entscheidet sich, die beiden in ein nettes Gespräch zu verwickeln:
Jemand sagte mir – ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es gewesen ist –, daß es doch wunderbar sei, daß man, wenn man früh aufwacht, wenigstens im allgemeinen alles unverrückt an der gleichen Stelle findet, wie es am Abend gewesen ist. Man ist doch im Schlaf und im Traum wenigstens scheinbar in einem vom Wachen wesentlich verschiedenen Zustand gewesen, und es gehört, wie jener Mann ganz richtig sagte, eine unendliche Geistesgegenwart oder besser Schlagfertigkeit dazu, um mit dem Augenöffnen alles, was da ist, gewissermaßen an der gleichen Stelle zu fassen, an der man es am Abend losgelassen hat. [109]
Oder genauer gesagt: Das ist, was Joseph K. in einer frühen Fassung von Kafkas Roman
Der Proceß
sagte, bevor Kafka die Szene strich. Ja, diese Unterhaltung zwischen Joseph K. und den Wächtern, die gekommen sind, um ihn abzuholen, in der K. berichtet, jemand habe einmal zu ihm gesagt, aufzuwachen sei der »riskanteste Augenblick am Tag«, denn »sei er einmal überstanden, ohne dass man irgendwohin von seinem Platze fortgezogen wurde, so könne man den ganzen Tag über getrost sein«, verschwand. [110] So dass Joseph K. jetzt, statt darüber zu spekulieren, ob es ontologisch gefährlich sei, einzuschlafen, in einer Welt erwacht, die selbst eine ontologische Gefahr darstellt. Trotzdem kommentiert er seine Situation zu keinem Zeitpunkt. Und dies trifft auf so viele Figuren in Kafkas fiktiven Texten zu: Sie akzeptieren das Unwirkliche als ihre ausschließliche Wirklichkeit. Zwei mögliche Schlüsse kann der internationale Leser also ziehen: Entweder ist Joseph K. verrückt, oder die Welt, in der er gezungen ist zu leben, ist verrückt. Mit anderen Worten: Er ist entweder wach und verrückt, oder er schläft und ist ganz normal. Aber diese Erzählung ist als reine Oberfläche geschrieben. Obwohl es möglich ist, sich eine andere Art Roman vorzustellen, der eindeutig eine Beschreibung von Joseph K.’s Traumleben wäre, verschleiert Kafka diese Sichtweise mit Absicht. Es handelt sich um einen Traum, und gleichzeitig auch nicht.
Kafkas Sätze, geschrieben in der angeblich objektiven dritten Person, sind von Joseph K.’s Annahmen durchtränkt: als träumte Joseph die Beschreibung seiner selbst. Dieser Stil der Sonderlichkeiten ist eine Verdickung – wie Schlagsahne – von Flauberts stilistischen Effekten.
Hierbei handelt es sich um ein frühes Beispiel der internationalen Migration und Transmigration von literarischen Effekten.
Flaubert hatte Sätze über seine Figuren gebildet, indem er das individuelle Vokabular jeder der Figuren selbst benutzte; als versuche eine Figur, in der ersten Person zu schreiben und würde immer in die dritte Person abgedrängt. Mit anderen Worten, seine Figuren waren Träumer. Jede externe Perspektive war völlig abhängig von der Anordnung der Sätze. Kafkas erste Neuerung war es, zu bemerken, dass dies nicht nur die Beschreibung einer Phantasie, sondern auch die Beschreibung eines Traumes war, in dem sich eine Person selbst als Abstraktion wahrnimmt. In Kafkas Roman kontaminiert also Joseph K.’s Traumlogik – seine egoistischen Phantasien, die ständigen Anliegen seines eigenen Stolzes – Kafkas Prosa. Denn eines der Charakteristika von Joseph K. ist, dass er ständig von seinem Wunschdenken gesteuert wird. Er trifft Entscheidungen auf der Grundlage einer leicht irren Fähigkeit, seine Probleme für günstige Gelegenheiten zu halten. Hieraus erwächst die gewisse Komik des Textes und Joseph K.’s Pathos. Aber das wirklich Interessante ist Kafkas Weigerung, seine Erzählung eindeutig als Traum auszugeben. Dies macht aus Kafkas Prosa eine unendliche Oberfläche, an der man sich zurechtfinden muss: eine Oberfläche, die wirklich ist, aber gleichzeitig auch unwirklich ist. [19]
In seinem Roman
Das Schloß
wollte Kafka beschreiben,
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