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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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wie Kafka sein unveröffentlichtes Material eventuell hätte präsentieren wollen. Aber man kann Kafkas Geschichten über Joseph K. in Prag auch anders lesen. Das Kapitel mit dem Titel »Der Prügler«, zum Beispiel, mit der sadomasochistischen Szene in der Rumpelkammer, muss nach dem Kapitel »Erste Untersuchung« stehen, aber das ist auch schon alles. In Brods Ausgabe ist es das fünfte Kapitel. Aber es könnte auch später vorkommen. Es gibt keine anderen Handlungshinweise, anhand derer man es definitiv verorten könnte. Genauso muss das Kapitel »Im Dom« nicht unbedingt das vorletzte sein. Es dort zu positionieren, war keine neutrale Entscheidung: Stattdessen untermauert sie Max Brods These, dass Kafka ein religiöser Schriftsteller war; dass die Bedeutung dieses Romans in seinem Status als Allegorie liegt. Denn Max Brod zufolge geht es in diesem Buch um die Suche nach dem Glauben. Notwendigerweise muss die Handlung deshalb vor Josef K.’s Tod auf dessen Besuch im Dom zustreben. Aber wenn diese Episode an einer früheren Stelle stünde, würde sie vielleicht etwas von ihrem Ernst verlieren –, sie käme einem vielleicht komischer vor, von höherer Dichte wegen der Verkoppelung der Themen untereinander. Denn Kafkas Form war sogar noch experimenteller als sie aussah. Die Struktur dieses Buches ist eher spiralförmig – gleichzeitig progressiv und abschweifend –, keine gerade Linie. Und in dieser Spirale ist somit unklar, was metaphorisch und was buchstäblich gemeint ist. Ja, alles ist Oberfläche in der Schwebe.
    7
    Am 19 . Oktober 1921 begann Kafka einen Tagebucheintrag, in dem er sich überlegte, was die Bedeutung des biblischen »Wüstenwegs« sein mochte. Über die zentrale Figur in dieser Geschichte schrieb Kafka:
    Die Witterung für Kanaan hat er sein Leben lang; daß er das Land erst vor seinem Tode sehen sollte, ist unglaubwürdig. Diese letzte Aussicht kann nur den Sinn haben, darzustellen, ein wie unvollkommener Augenblick das menschliche Leben ist, unvollkommen, weil diese Art des Lebens endlos dauern könnte und doch wieder nichts anderes sich ergeben würde als ein Augenblick. [116]
    Und deshalb muss dies die Aussage der Geschichte sein, erklärte Kafka: Sie ist eine Allegorie des unvermeidlichen Versagens, welches das menschliche Leben ist. Die Geschichte setzt Leben und Versagen gleich. »Nicht, weil sein Leben zu kurz war, kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war.« [117] Und dann beendet Kafka den Eintrag mit einer nachträglichen Überlegung: »Dieses Ende der fünf Bücher Moses hat eine Ähnlichkeit mit der Schlußszene der ›Éducation sentimentale‹.« [118]
    Die letzte Szene von Flauberts Roman
L’Éducation sentimentale
(
Die Erziehung des Herzens
) ist ein Gespräch zwischen dem melancholischen Helden des Romans, Frédéric Moreau, und seinem besten Freund, Deslauriers. Sie erinnern sich an ihren missglückten Bordellbesuch als Jugendliche – sie kamen mit Blumensträußen, und der junge Frédéric brachte kein Wort heraus, er stand nur da mit seinen Blumen. »Alle Mädchen lachten, belustigt von seiner Verlegenheit. Es schien ihm, als werde er verspottet, und so flüchtete er. Und da Frédéric das Geld hatte, war Deslauriers gezwungen, ihm zu folgen.« [119] Viele Jahre später erzählten sie sich gegenseitig diese Geschichte, halfen sich mit den Details. Und als sie zu Ende waren, sagte Frédéric:
    »Das war eigentlich unser schönstes Erlebnis.«
    »Ja, vielleicht war es das schönste«, sagte Deslauriers. [120]
    Sie hatten ihr ganzes Leben gebraucht, um dies zu begreifen.
    Diese neue Geographie, wo sich Frankreich und Kanaan überschneiden, führt uns die verrückte Struktur von Kafkas Prosa vor Augen: Statt wie üblich zwischen einer weltlich-häuslichen Erzählung und einer theologisch-allegorischen Erzählung zu unterscheiden, erlaubte Kafkas neuer Stil ihm die Gleichsetzung beider Formen. So dass die Geschichte von Moses etwas seltsam Wörtliches und die Geschichte von Frédéric etwas seltsam Allegorisches bekommt. Beide können dieselbe Form annehmen. Sie haben das gleiche romantische Thema, das der gleichen ironischen Struktur ausgesetzt wird.
    Ich erinnere mich an eine Anekdote: Eines Abends äußerte Flauberts Freund Henry Céard in Flauberts Appartment in Paris, in der Rue Murillo, seine Bewunderung für die
Erziehung des Herzens
. Ergriffen erwiderte Flaubert: »›Der Roman gefällt dir also, stimmt’s? Trotzdem ist das

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