Der multiple Roman (German Edition)
über »Die Erzählkunst und die Magie«. Am Anfang dieses Aufsatzes steht ein Argument, das mit Borges’ Aussagen über die platonische Form in seinen früheren Essays verwandt zu sein scheint: »Die Analyse der Darstellungsformen des Romans hat in der literarischen Öffentlichkeit nur wenig von sich reden gemacht. Die geschichtliche Ursache dieser andauernden Zurückhaltung ist die Priorität anderer Gattungen; der eigentliche Grund ist die nahezu unentwirrbare Komplexität der im Roman angewandten Kunstmittel, die sich von der Grundfabel nur schwer ablösen lassen.« [125] Und meiner Meinung nach hätte Borges hier weitermachen sollen – wenn er bloß dieser Intuition weiter gefolgt wäre! Übersetzungen waren nicht deshalb aus einem anderen Material gemacht als die Literatur und ihre bescheidene Rätselhaftigkeit, weil sie die Literatur als eine kontinuierliche Abfolge von Entwürfen enttarnte. Stattdessen waren Übersetzungen so wichtig, weil sie wie ein Polaroid das wirkliche Wesen der Seele eines Romans abbilden. Ich denke hier daran, was Milan Kundera in seinem Essay »Der Vorhang«
schreibt:
Die herausragende Bedeutung der Komposition ist eines der genetischen Kennzeichen der Kunst des Romans … Die Schönheit eines Romans hingegen ist von seiner Architektur untrennbar; ich sage
Schönheit
, denn die Komposition ist nicht bloßes technisches Können; sie trägt die Originalität des Stils eines Autors in sich (alle Romane Dostojewskijs sind auf das gleiche Kompositionsprinzip gegründet); und sie ist das Erkennungszeichen jedes einzelnen Romans (innerhalb dieses gemeinsamen Prinzips hat jeder Roman Dostojewskijs seine unnachahmliche Architektur). [126]
Aber dies reflektiert eigentlich nur ein universelles Problem, das aufkommt, wenn man über Romane redet … Alle diese Ausdrücke! Da ist das Wort
Komposition
, und das Wort
Architektur
, und das Wort
Stil
. Alle in einem Absatz! Während sie untereinander nicht identisch sind, hängen sie alle voneinander ab: Sie sind jeweils ein anderes Element der Kunst, einen Roman zu gestalten. Und es ist die Gestaltung, die Seele hat: und die übersetzbar ist. Denn sie macht außerhalb ihres Kontextes keinen Sinn. Ja, dies ist der Grund, warum Romane international sind: Ihr Inhalt ist als Netzwerk angelegt.
2
Im vierten Kapitel des ersten Teils von
Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha
beschreibt der spanische Schriftsteller Miguel de Cervantes, wie ein Mann, dessen wirklicher Name Alonso Quijano ist, der sich aber Don Quijote nennt, weil er sich für einen fahrenden Ritter hält (der er aber nicht ist), irgendwann am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ein Gasthaus verlässt und in den Wald geht. Er hört jemanden rufen. Er macht ein paar Schritte und sieht eine Stute, die an eine Eiche gebunden ist, und neben dieser Eiche einen Jungen, der an eine weitere Eiche gebunden ist und von einem »Bauer[n] von kräftiger Gestalt« mit einem Gurt geschlagen wird. [127] Und weil Don Quijote edel ist, weil er ein fahrender Ritter ist, forderte er diesen Mann natürlich zum Duell heraus. Und da der Bauer nicht völlig irre ist, denkt er natürlich, dass er von einem Verrückten angegriffen wird, und versucht ihn zu beruhigen. Er erklärt Don Quijote, der Junge sei sein Knecht, dessen Aufgabe es sei, die Schafe zu hüten: Aber der Junge sei so unaufmerksam, dass er jeden Tag ein Schaf verliere, und trotzdem behaupte er, ihm würde der Lohn aus Habgier vorenthalten und nicht zur Strafe. Aber Don Quijote, ein Romantiker, ist von dieser umständlichen Erklärung nicht überzeugt und befiehlt dem Mann, dem Jungen seinen Lohn zu geben und ihn gehen zu lassen. Und so bindet der Mann natürlich den Jungen los. Denn Don Quijote ist bewaffnet. Es ist nur normal, Leuten zu gehorchen, die bewaffnet sind. Don Quijote verlangt, dass der Bauer den ausstehenden Lohn sofort bezahlt.
»Das Unangenehme in der Sache, Herr Ritter, liegt darin, dass ich kein Geld bei mir habe; Andrés soll mit mir nach Hause kommen, und da werde ich ihm zahlen Real für Real.«
»Ich noch mit ihm gehen?«, sagte der Junge, »o weh! Lieber Herr, nicht im Traum tät ich das; denn sobald er sich allein mit mir sieht, wird er mir die Haut abziehen wie einem heiligen Bartholomäus.«
»Solches wird er nicht tun«, entgegnete Don Quijote. »Dass ich es ihm gebiete, ist hinreichend, damit er mir Gehorsam erweise, und sofern er bei dem Ritterorden, den er empfangen hat, mir es schwört, lasse ich ihn
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