Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
Vom Netzwerk:
Buch zum Scheitern verurteilt, weil es nicht dies tut.‹ Er legte die Hände pyramidenförmig aneinander. ›Die Öffentlichkeit will Bücher, welche die Emotionen anregen, wohingegen die
Education sentimentale
…‹ Und er drehte die Hände um und öffnete sie, als wollte er sie ausleeren.« [121] Die geöffnete Pyramide: Das ist die Form der Geschichte von Moses und die der Geschichte Joseph K.’s: Und sie ist die ideale Form von Flauberts Stil. Übrig bleibt nur Oberfläche. Und all dies begann auf der Spitze der großen Cheopspyramide und in ihrer Umgebung.

Netzwerke
    1
    In den frühen 1930 er Jahren schrieb Jorge Luis Borges diverse Aufsätze für eine Reihe von kleinen Zeitschriften in Buenos Aires, in denen er sich in kleinen Sprüngen zu einem neuen Konzept der Romantechnik hinbewegte, angetrieben von einem neuen Übersetzungskonzept.
    Er folgte keinem bestimmten Plan. Er improvisierte einfach.
    1931 schrieb Borges einen Aufsatz für
Azul
mit dem Titel »Die abergläubische Ethik des Lesers«. Denn Borges hatte ein Problem mit Lesern – und die schlimmsten Leser, fand er, die allerschlimmsten, waren diejenigen, die sich für die besten hielten: diejenigen, die viel auf Stil gaben. Diese Fixierung auf Stil, schrieb Borges, mochte einem zwar auf den ersten Blick wie ein echtes Interesse an ästhetischen Fragen vorkommen, aber in Wirklichkeit wurde sie durch verdeckte Moralvorstellungen bedingt: Stil stellte eine »unabweisliche Etikette« dar. Flaubert, der absolute Ästhet, war davon überzeugt gewesen, dass »Korrekturen (im wahrsten Sinne des Wortes)« den Denkprozess »unverwundbar und unzerstörbar« machten. Aber damit, argumentierte Borges, hatte er unrecht. »Dagegen kann umgekehrt die Seite, die zur Unsterblichkeit berufen ist, das Fegefeuer der Druckfehler, der annähernden Wendungen, der unachtsamen Lesarten, des Unverständnisses durchmessen, ohne bei dieser Feuerprobe ihre Seele einzubüßen.« [122] Die Seele war Borges’ neues Steckenpferd: Er war davon überzeugt, dass jedes Werk seine eigene Seele hat, seine eigene Art der Beseeltheit.
    In Borges’ Aufsatz in der Zeitschrift
Azul
ist das Übersetztwerden nur eine von mehreren möglichen Prüfungen, denen sich die Seele unterziehen muss – aber bald schien ihm das Übersetzen wichtiger zu sein: Es schien das alles bestimmende Problem eines Stils zu sein. Ein Jahr später veröffentlichte Borges einen neuen Aufsatz mit dem Titel »Die Homerübersetzungen«, der sich mit den vielen Übersetzungen der
Ilias
ins Englische beschäftigte. Borges eröffnet seinen Aufsatz gleich mit seinem Hauptargument: »Kein Problem ist mit der Literatur und ihrem bescheidenen Mysterium so innig verwoben wie das Problem, vor das uns eine Übersetzung stellt.« [123] Borges zufolge brachte der Prozess des Übersetzens eine erstaunliche Wahrheit ans Licht: dass die Form eines literarischen Werkes seiner Inkarnation in Worten vorausging. Form war platonisch: Form war Seele. Und dies brachte ihn zu einer schelmischen Schlussfolgerung – dass die wörtliche Form eines Werkes immer nur eine Annäherung an die reinere, vorher bestehende Seele sei: Eine verrückte Idee, für die aber auf der einen Seite spricht, dass ein Text auf verschiedene Weise übersetzt werden kann, und auf der anderen Seite die Tatsache, dass ein Werk normalerweise eine Reihe unfertiger Fassungen durchläuft. »Die voreingenommene Ansicht, derzufolge jede kombinatorische Neuordnung von Elementen dem Original unterlegen ist«, schrieb Borges, »kommt der Ansicht gleich, daß die Skizze  9 der Skizze H notgedrungen unterlegen sei – wiewohl es doch nur Skizzen geben kann.« [124] Ich bewundere diesen Gedanken zwar, bin mir aber nicht sicher, ob Borges recht hat: Der Gedanke wirkt zu modisch, zu verliebt in diese Rätselhaftigkeit der unfertigen Fassung. [20] Denn Borges verwechselt zwei Elemente: den Schriftsteller und den Übersetzer. Während der Übersetzer in einer Wüste der Synonyme wandeln muss – wo es keine perfekten Wörter zu geben scheint –, stimmt das so für den Schriftsteller nicht: Flauberts Qualen des Stils sind ein reines Melodrama. Nein, eine Übersetzung ist in ihrer Essenz nicht das Gleiche wie die unfertige Fassung eines Romans. Und deswegen möchte ich stattdessen über ein weniger hochtrabendes Konzept von der Seele des Romans sprechen und einen weiteren Aufsatz von Borges einführen, den dieser im gleichen Sommer für die fünfte Ausgabe von
Sur
schrieb,

Weitere Kostenlose Bücher