Der multiple Roman (German Edition)
das Gedächtnis eines Kindes geübt werden sollte, vermag kein noch so karger Gedanke ins Gehirn zu kommen, aus dem sich nicht ein ganzes Magazin von Begriffen und Folgerungen ableiten ließe.«
Ein weißer Bär! Je nun. Habe ich jemals einen gesehen? Könnte ich jemals einen gesehen haben? Werde ich jemals einen sehen? Hätte ich jemals einen sehen sollen? Oder kann ich jemals einen sehen?
Ich wollte, ich hätte einen weißen Bären gesehen! (Denn wie kann ich mir anders einen vorstellen?)
Sollte ich einen weißen Bären sehen, was würde ich sagen? Wenn ich nie einen weißen Bären sehen sollte, was dann?
Wenn ich niemals einen lebendigen weißen Bären gesehen habe, sehen kann, muß oder werde; habe ich dann vielleicht das Fell eines solchen gesehen? Sah ich jemals einen gemalt? – beschrieben? Hat mir nie von einem geträumt?
Haben mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, meine Tante, meine Brüder oder Schwestern jemals einen weißen Bären gesehen? Was würden sie drum geben? Wie würden sie sich betragen? Wie würde der weiße Bär sich betragen? Ist er wild? Zahm? Schrecklich? Struppig? Glatt?
— Ist der weiße Bär des Sehens wert? —
— Ist auch keine Sünde dabei? —
Ist er besser als ein schwarzer? [195]
Ein irre redender grammatikalischer Apparat: Dies, lieber Leser – eine manische Beschreibung eines imaginären Bären –, ist das Beispiel eines auf seine Elemente abstrahierten Romans. Es ist etwas, das aus dem Nichts entsteht. Genau, wie die Geschichte des Romans.
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Und genauso der Romanschriftsteller. Denn Sternes Roman umfasst nicht nur den Zweifel bezüglich des Geburtsprozesses. Er zweifelt auch an der herkömmlichen Vorstellung davon, was überhaupt eine Person ausmacht.
(— Lieber Freund, sprach ich – so gewiß ich ich bin – und Ihr Ihr seid —
— Und wer seid Ihr? sagte er. – Macht mich nur nicht irre; sagte ich.) [196]
Wir haben natürlich unser wissenschaftliches Vokabular: Wir verfügen etwa über ein großes Aufgebot medizinischer Ausdrücke. Aber so wie Sterne dieses Vokabular verwendet, ist es nicht besonders nützlich. Seine wunderbare Fähigkeit, die Wörter zur Schau zu stellen, basiert auf seiner meisterhaften, schadenfreudigen Ausbeutung ihrer Unvollkommenheit. So dass er problemlos im Vorbeigehen seinem Leser gegenüber äußern konnte: »Ihr alle habt gewiß schon von den Lebensgeistern gehört, wie sie von Vater und Sohn transportiert werden &c. &c. …« [197] Aber die Lebensgeister sind uns auch keine Hilfe dabei, zu verstehen, was ein Individuum ausmacht: dieser seltsame Mischmasch von Körper und Seele, von Fleischlichkeit und Bewusstsein. Galenus von Pergamon hatte die Seele auseinandergenommen und ihren Bestandsteilen verschiedene Funktionen zugewiesen: motorische, sensorische und rationale. Diese rationale Seele wurde selbst noch unterteilt in Vorstellungskraft, Vernunft und Erinnerungsvermögen. Ihre genaue Position im Körper aber war strittig. Und wenn ein Selbst wirklich aus einem so geschickt eingerichteten System bestand, dann stellt sich natürlich die Frage, wie es so einfach aus den Fugen gebracht werden konnte: durch Krankheiten oder Begierden. Oder die Krankheit des Begehrens. Also wurde ein Vokabular der Nerven und der Lebensgeister und der Säfte erfunden, mit dem das Verhältnis des Körpers zur Seele erklärt werden sollte: ein System aus Flaschenzügen und unsichtbaren Retorten. »Unsere Seelen scheinen nicht durch den Körper hindurch, sondern sind hinieden in ein dunkles Futteral von unkristallisiertem Fleisch und Blut gepackt …« [198] Durch Nachahmung wurde Sternes Prosa eine wunderbare, traurige Mischung aus Bauchgefühl und Durchdachtem. »Eines Menschen Leib und Seele, ich sage dies mit aller Hochachtung vor beiden, gleichen aufs Fädchen einem Wams und dessen Futter; – verkrumpelt man das eine – so verkrumpelt man das andere mit.« [199] Während der Leser langsam herausfindet, dass Tristrams eigener Wams im Sterben liegt. Dieser lebhafteste, gegenwärtigste aller Romane wird von einem kranken Körper erzählt. Im Prestissimo seiner Prosa lässt sich immer wieder Tristrams »nichtswürdiger Husten« vernehmen. [200]
Stattdessen können wir natürlich auch einen professionellen Philosophen zu Rate ziehen. Zum Beispiel Thomas Willis, einen Naturwissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts, der den Begriff »Neurologie« prägte, und der versuchte, die Lebensseele, die den Körper mit ihren Lebensgeistern
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