Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
Vom Netzwerk:
obwohl Bloom den ganzen Tag über das Haus gemieden hat, sie liebt ihn. Und deshalb findet der Leser auch heraus, falls er das nicht schon wusste, dass die Liebe kompliziert ist. Dieser avantgardistische, experimentelle Roman ist auf eine seltsame Weise liebenswert und altmodisch. Der Leser weiß, dass Molly gerade untreu war, aber er weiß auch, dass dies nichts ausmacht. Ja,
Ulysses
ist als Imitation der Liebe angelegt.
    5
    Früher am Tag hatte sich Bloom mit einem Glas Burgunder beim Mittagessen einen kleinen Schwips angetrunken. Und weil er beschwipst war und sentimental, dachte er an Sex. Beim Mittagessen in einem Pub dachte er daran, wie es sich anfühlte, wenn er seine Frau küsste.
    Auf meinen Rock gebettet hatte sie ihr Haar, Ohrwürmer im Heidekraut, meine Hand unter ihrem Nacken, du bringst mich noch ganz durcheinander. O Wunder! Kühlweich von Salben berührte mich ihre Hand, liebkoste: ihr Blick war auf mir, wandte sich nicht ab. Entzückt lag ich über ihr, volle Lippen voll offen, küsste ihren Mund. Nimm. Sanft gab sie mir in den Mund den Mohnkuchen, warm und gekaut. Widerlichen Brei, gemummelt von ihr, süß und sauer von Speichel. Freude: ich aß ihn: Freude. Junges Leben, ihre Lippen, die es mir gaben, spitzten sich schwellend. Weich, warm, klebrige, gummigallertige Lippen. Blumen warn ihre Augen nimm mich, willige Augen. Kiesel fielen. Sie lag ganz still. Eine Ziege. Niemand. Hoch auf dem Ben Howth Rhododendren, ein Zicklein, lief sicherfüßig dahin, ließ Köttelchen fallen. [159]
    Und dann, etwa zwölf Stunden später, achthundert Seiten später, grübelt Molly vor sich hin, während sie einschläft:
    die Sonne die scheint für dich allein hat er damals gesagt wo wir unter den Rhododendren lagen oben auf dem Howth in dem grauen Tweedanzug und mit dem Strohhut an dem Tag wo ich ihn so weit kriegte dass er mir den Antrag gemacht hat ja zuerst hab ich ihm ein bisschen von dem Mohnkuchen aus meinem Mund gegeben und es war Schaltjahr wie jetzt ja vor 16  Jahren mein Gott nach dem langen Kuss ist mir fast die Luft ausgegangen ja er sagte ich wäre eine Blume des Berges ja das sind wir alle Blumen ein Frauenkörper ja da hat er wirklich mal was Wahres gesagt in seinem Leben und die Sonne die scheint für dich allein heute ja deswegen hab ich ihn auch gemocht weil ich gesehn hab er versteht und kann nachfühlen was eine Frau ist und ich hab auch gewusst ich kann ihn immer um den Finger wickeln und da habe ich ihm die ganze Lust gegeben die ich konnte und hab ihn so weit gebracht dass er mich gebeten hat ja zu sagen und zuerst hab ich gar keine Antwort gegeben … [160]
    Beim Mittagessen ist das Detail mit dem Mohnkuchen ein Moment in Blooms Erinnerung, eine Episode in seiner romantischen und pornographischen Autobiographie. Erst gegen Ende des Buches – wenn er all dies schon wieder vergessen hat –, entdeckt der Leser, dass dieser pikante Moment, an den sich Bloom erinnerte, auch der Moment war, in dem er Molly einen Heiratsantrag machte. Er dachte nicht immer nur an Sex. Er dachte auch an die Ehe.
    Aber all dies ist nicht offensichtlich. Alles muss zusammengestückelt, rekonstruiert werden, aus diesem kleinteiligen Zustand von Joyces Roman. Die Geschichte ist im Text, aber gleichzeitig ist sie es auch nicht. Das Netzwerk, das diese gigantische Komposition des
Ulysses
bildet, ist eine Möglichkeit, wie man die endlosen Verhältnisse der Kunst des Lebens darstellen kann.

3 Hommage an Laurence Sterne, mit vier Multiples

Hommage an Laurence Sterne
    1
    Hier sind die Fakten, die wir über jene Geschehnisse erfahren, die Tristram Shandys Geburt zur Folge hatten. »Ich wurde in der Nacht zwischen dem ersten
Sonntag
und dem ersten
Montag
im Monat
März
im Jahre des Herrn eintausendsiebenhundertundachtzehn gezeugt. Dies weiß ich mit aller Bestimmtheit.« Er kann sich deshalb so sicher sein, teilt uns Tristram mit, weil sein Vater »so hatte er’s sich seit vielen Lebensjahren zur Regel gemacht, – am ersten Sonntagabend eines jeden Monats im Jahr, – so gewiß wie dieser Sonntagabend kam, – mit eigener Hand eine große Hausuhr aufzuziehen, die wir auf dem oberen Absatz der Hinterstiege stehen hatten: – Und da er zu der Zeit, von der ich gesprochen habe, von den Fünfzig auf die Sechzig zusteuerte, – hatte er allmählich gewisse andere Familienobliegenheiten gleichfalls auf diesen Termin geschoben, um sie, wie er meinem Onkel
Toby
oft zu sagen pflog, alle auf einen Streich vom Hals zu

Weitere Kostenlose Bücher