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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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belebte, zu erklären. Die Empfängnis, meinte Willis, würde durch eine Vielzahl dieser Lebensgeister ausgelöst – durch eine »kleine, noch nicht entfachte Lebensseele«, die sich in der Samenflüssigkeit befände. Wenn sich diese Flüssigkeit ergoss, entflamme eine der Seelen, wie ein kleines Feuer. Diese Seele bilde dann einen Körper aus, nach dem Muster gewisser »Formen« – Typen, die vom Schicksal bestimmt seien. Aber trotz seiner physiologischen Präzision war Willis immer noch nicht sicher, wo sich diese Seele im Körper befinden könnte. Dieses Problem der Seelenlage beschäftigte auch Mr Shandy. Er konnte nicht glauben, dass die Seele »in diesem sehr dünnen, feinen und überaus wohlriechenden Saft« enthalten sein könnte, wie es ein milanesischer Arzt namens Coglionissimo Borri postuliert hatte [30]  – in diesem Saft, der sich »in den Zellen der rückwärtigen Teile des Cerebellum« befand. Nein, Mr Shandy konnte die Vorstellung nicht zulassen, dass die Seele »wie ein Kaulquapp« in irgendeiner Flüssigkeit existierte; und so schien es ihm am wenigsten verwerflich, wenn sich die Seele stattdessen »im oder nahe beim Cerebellum« befände, »oder vielmehr irgendwo so um die
medulla oblongata
herum …« [201] Aber diese Überlegungen betreffen nur die Seele! Das rationale Selbst ist nicht weniger instabil.
    Ja, hören wir uns die Philosophen an. Denn eine der Freuden, die das Autorendasein mit sich bringt, ist es, frei von allen großen Sprachen zu sein: eine neuartige kleine Sprache erschaffen zu können. In seinem Aufsatz
Essay Concerning Human Understanding
(
Über den menschlichen Verstand
) argumentiert John Locke: »das Selbst [ist] nicht durch die Identität oder Verschiedenheit einer Substanz bestimmt, worüber es keine Gewißheit erlangen kann, sondern lediglich durch die Identität des Bewußtseins.« Das Selbst ist die Gesamtheit jener Eindrücke, Gedanken und Gefühle, aus denen der bewusste Teil eines Menschen besteht. Aber Locke zufolge ist es keinem bestimmten Körper zugehörig: Seine Identität ist zeitlicher Natur. Es ist ein rein subjektiver Zustand. Die Identität eines Selbst liegt daher in der permanenten Abfolge von Ideen. Aber dies machte es für Locke schwierig, den Wahnsinn der Wahnsinnigen zu erklären. Denn deren Geist scheint dem der Gesunden so ähnlich zu sein. »Wahnsinn«, schrieb Locke 1677 in sein Notizbuch, »scheint nichts zu sein, als eine Störung der Vorstellungskraft und nicht der diskursiven Fähigkeit.« Es handle sich nur um ein Problem innerhalb der Logik der Assoziation: die Assoziation selbst sei nicht das Problem.
    Die Seele war ein Durcheinander der Säfte. Und das Selbst war ein fortlaufendes Durcheinander der Assoziationen: ein Apparat für die Produktion von Wiederholungen. So dass sich das wahnsinnige Selbst und das gesunde Selbst kaum unterscheiden ließen. Das war es, was uns Sterne voll Schadenfreude unter die Nase rieb. Der Mechanismus seines Romans ist so bezaubernd, ist auf eine so charmante Weise lustig, dass man schnell vergisst, dass eigentlich alle in ihm vorkommenden Figuren verrückt sind. Was heißen soll: Sie sind normal. Sie sind alle traumatisiert, stehen unter Schock. Und als Reaktion darauf, haben sie alle etwas entwickelt, was Sterne ein Steckenpferd nennt.
    Nun findet aber, ob wir’s bemerken oder nicht, fuhr mein Vater fort, im Kopfe eines jeden gesunden Menschen eine regelmäßige Sukzession von Ideen dieser oder jener Art statt, welche so aufeinanderfolgen wie ein Zug – Wie ein Zug einer Artillerie? sagte mein Onkel Toby. – Ein Zug Pfeifendeckel! – sprach mein Vater … [202]
    Es ist durchaus möglich, dass Mr Shandy eine Parodie des scholastischen Geistes ist: oder von Robert Burtons Melancholikern – die sich gemütlich in ihren phantastischen Meditationen eingerichtet haben. Aber die Parodie schafft in diesem Roman ungewöhnliche Gebilde. Sie schafft echte Menschen. Sternes Figuren fliehen vor sich selbst, indem sie sich in die vermeindliche Sicherheit ihres häuslichen Lebens zurückziehen: ständig erniedrigt von der natürlichen Komödie ihrer körperlichen Bedürfnisse. Mr Shandys Steckenpferd ist es daher, abzustreiten, dass er überhaupt ein Steckenpferd hat. Er versucht, seine Leidenschaften als seinen Esel abzutun: »es war nicht allein eine lakonische Art sich auszudrücken – sondern zugleich auch eine Famosschrift gegen die Lüste und Begierden des gemeineren Teils unserer Natur; so

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