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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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haben …« [191] Diese Informationen genügen, natürlich, allein nicht wirklich, um den genauen Zeitpunkt der Empfängnis zu rekonstruieren. Aber Tristram hat noch mehr Anhaltspunkte in petto.
    Nun erhellet aus einem Vermerk in meines Vaters Notizbuch, welches jetzt offen vor mir auf dem Tisch liegt, »Daß an
Mariä Verkündigung
, die auf den 25 sten desselben Monats fiel, von dem ich meine Zeugung datiere, – mein Vater sich mit meinem ältesten Bruder
Bobby
auf die Reise nach
London
verfügte, um ihn an der
Westminster
-Schule einzuschreiben«; und, wie aus selbiger Quelle erhellet, »Daß er erst in der
zweiten Woche
des Monats
Mai
zu Frau und Familie zurückkehrte«, – dies macht die Sache beinahe zur Gewißheit. Was aber zu Anfang des nächsten Kapitels folgt, erhebt sie über jeden Zweifel.
    — Aber bitt’ Euch, Sir, Was tat Euer Vater denn den lieben langen
Dezember
, –
Januar
, und
Februar
? – Ei, Madam, – er war die ganze Zeit vom Ischias geplagt. [192]
    Dies scheint der endgültige Beweis zu sein: Am Anfang des nächsten Kapitels wird unser Held geboren, und wir werden über seinen Geburtstag informiert: »Am fünften Tag des
November
1718 , was, von dem bewußten denkwürdigen Ereignis an gerechnet, neun Kalendermonate so gut vollmachte, als dies irgendein Ehemann nur rechtens hätte erwarten können, – kam ich,
Tristram Shandy
, Gentleman, in diese unsere spottschlecht-kummervolle Welt.« [193]
    Und sofort ergibt sich natürlich ein Problem für uns. Es sind zwar neun volle Monate, aber vielleicht sind sie weniger voll, als es ein Ehemann mit Recht erwarten könnte. Eigentlich handelt es sich nicht wirklich um neun Monate. Tatsächlich sind es eher acht. Und während dies vielleicht nur bedeutet, dass Tristram schon damals etwas voreilig war, seine Art, Geschichten zu erzählen, ist es schließlich auch – wo »Gründe den Effekten folgen«, wie der revolutionäre Kritiker Viktor Sklovskij im bolschewikischen Moskau feststellte –, lässt sich auch noch eine andere Erklärung finden. Er hätte im Februar empfangen worden sein können, als sich sein Vater wegen seines Ischias vom Bett seiner Mutter fernhalten musste.
    Ja, Tristram könnte nicht das Kind seines Vaters sein. Dies ist das stille Problem seines Geburtstags. Vaterschaft ist ein philosophisches Rätsel der Abwesenheiten, der Leere. So stellt es sich dieser Roman vor. Ja, tatsächlich kann es gut sein, dass alle Vorstellungen von Erbfolge, von Erbschaft, von Vererbung, von zeitlichen Abfolgen, ja im Grunde alle Vorstellungen von Zeit fehlerhaft sind. Geburtstage oder Jahrestage mögen vielleicht sogar etwas sein, das wir gar nicht feiern können.
    Dieser Apparat, Sternes Roman
Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
, ist so angelegt, dass er zu solchen und ähnlich ergebnislosen Schlussfolgerungen führt. Der Roman soll im Nirgendwo landen. Und das tut er. Aber die Vaterschaft war schon immer eine mystische Angelegenheit: ein pneumatischer Apparat der Retorten und Pfropfungen. Und die Literaturgeschichte ist es auch. Deshalb will ich – mit diesem kleineren Apparat meiner Hommage an Laurence Sterne – ein Experiment für die Nachwelt anstellen: Ich will sehen, ob ich Sterne als Vater adoptieren kann. Oder sogar: ihn als Vater zeugen. Denn Sterne hatte eine Nachwelt im Blick:
    von der Nachwelt, sag’ ich – und steh’ nicht an, das Wort zu wiederholen – denn was hat dies Buch mehr verbrochen als die Sendung Mosis oder das Märchen von der Tonne, daß es nicht mit diesen den Rinnstein der Zeit hinabschwimmen sollte?
    Ich will die Sache nicht weiter verhandeln: die Zeit schwindet zu rasch davon: jeder Buchstabe, den ich hinschreibe, sagt mir, mit welcher Schnelligkeit das Leben meiner Feder folgt … [194]
    Sein Roman untersucht die Bedingungen von ganz neuen Formen der Empfängnis. Als ein kleines Beispiel des Rätsels der Empfängnis, der Tatsache, dass die Empfängnis gewissermaßen aus dem Nichts kommt, könnte ich Mr Shandys Theorie der Hilfsverben anführen: Dabei handelt es sich nicht um eine besonders wichtige Stelle des Romans, aber sie wurde, denke ich, als kleine Allegorie von Sternes avantgardistischem Projekt geschaffen: die Erschaffung eines Individuums nicht mit Blut und Samen, sondern mit Wörtern. Der Niedergang der Auxiliarverben, dachte Mr Shandy, deutete auf das Ende der Bildung hin: denn »bei richtigem Gebrauch und rechter Anwendung dieser Formen, fuhr mein Vater fort, worin

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